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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Mechanik lagen am Boden der Säcke und Kisten.
    Nach einer genauen, jedoch ergebnislosen Spurensicherung am Fundort legte der behandschuhte Polizeibeamte
jedes einzelne Teil mit äußerster Sorgfalt auf einen langen Auslegetisch, welchen seine Kollegen mit allen irgendwie auffindbaren Möbeln und ein paar weißen Leinentüchern in der Garage der Polizeiwache aufgebaut hatten.
    Albert Géraux, geschwächt von den schlaflosen Nächten und jeglicher Hoffnung auf Wiedergutmachung beraubt, wurde hereingeführt.
    »Na bitte«, sagte der Polizeibeamte ohne Begrüßung und machte eine fahrige Armbewegung über die Auslage, als wäre seine Arbeit damit getan. »Ich denke, das Schlimmste ist überstanden.«
    Albert Géraux stand da, reglos, bleich, untröstlich. Unter der grellen Neonbeleuchtung schien ihm die Auslage wie die schauerliche Präsentation von Leichenteilen. Seine Sammlung, sein Lebenssinn lag da, auseinandergerissen und willkürlich zusammengewürfelt, verwundet und geschändet. Sein Blick wanderte über den Tisch, von einem Objekt zum nächsten. Vor seinem inneren Auge brachte er Figuren und abgebrochene Holzteile, Zahnräder und Verzierungen zusammen, legte jedes Stück in die ihm zugeteilte Vitrine, an seinen angestammten Platz zurück.
    »Leider konnten wir keine Spuren finden im Wald, keinen Hinweis, kein weiteres Objekt, nicht einmal Abdrucke von Autoreifen.« Der Polizeibeamte schob die Unterlippe vor, atmete bedeutungsvoll. »Tut mir wirklich leid, Herr Géraux.«
    »Ich wusste es«, flüsterte Albert Géraux nur und wandte sich verbittert ab. Der Polizeibeamte fasste ihn am Arm und führte ihn um den Tisch herum.
    »Etwas deutlicher sollten Sie sich schon ausdrücken. Fällt Ihnen an diesen Stücken hier etwas auf? Fehlt etwas?«

    »Das ist es ja gerade! Alles ist da, jedes einzelne Stück der Sammlung liegt hier auf den Tischen. Diese Barbaren, Ignoranten! Haben alle diese Meisterwerke der Mechanik weggeworfen wie Dreck. Nur das Herzstück natürlich, das wichtigste Objekt der Sammlung, das fehlt!« Albert Géraux wurde noch blasser, als er bereits war, verlangte einen Stuhl und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Alles mit der Ruhe, Herr Géraux! Was ist das für eine Uhr, die fehlt?«
    Alber Géraux setzte sich. »Die Leute, die diese Uhr gestohlen haben, sind keine gewöhnlichen Diebe. Sie wussten sehr genau, welches Kunstwerk sie haben wollten. Aber wozu das ganze Museum ausrauben? Dilettanten! Wahrscheinlich haben sie im Auftrag gehandelt. Jemand wollte diese eine Spieluhr und nichts anderes. Unsere Objekte sind alle registriert, müssen Sie wissen, und weltweit bekannt. Es muss den Einbrechern schnell klar geworden sein, dass es unmöglich ist, diese Uhren irgendwo zu verkaufen.«
    »Außer dem Herzstück anscheinend«, mokierte sich der Polizeibeamte.
    »Diese Leute müssen im Auftrag gehandelt haben«, wiederholte Albert Géraux. »Verkaufen kann dieses Objekt niemand.«
    »Aber warum gerade diese eine Uhr? Was unterscheidet sie von den andern?«
    Albert Géraux sank in sich zusammen, als gäbe es im Tiefsten seines Innern einen Hinterausgang, durch den er sich retten konnte.
    Der Polizeibeamte zündete sich eine Zigarette an und zeichnete vor Ungeduld Rauchzeichen in den Raum.

    »Wenn wir Ihnen helfen sollen, Herr Géraux, Ihre Sammlung wieder zu vervollständigen, dann sollten Sie uns nichts verheimlichen. Was ist das für eine Uhr, die fehlt?«
    Die Tür ging auf. Weitere Polizisten betraten den Raum und stellten sich, auf Instruktionen wartend, in eine Reihe. Albert Géraux hob leicht den Kopf, atmete tief durch und schaute die Polizeibeamten fordernd an.
    »Diese Spieluhr trägt den Namen La Grande Dame. Sie ist das letzte, persönlichste und erstaunlichste Meisterwerk des Uhrmachers Jean-Louis Sovary, ein einzigartiges Unikum, die schreckliche Quintessenz seines Lebens.«
    Er ließ den Kopf sinken, hustete, röchelte. Dann fasste er sich wieder. »La Grande Dame, Herr Inspektor, ist eine Spieluhr, die in die Kategorie der sogenannten komplizierten Uhrwerke gehört. Sie ist einen Meter und fünfzehn Zentimeter hoch. Den oberen Abschluss bildet eine aus weißem Porzellan gebrannte Schachfigur, die weiße Dame. Das Gehäuse ist in großen Teilen ebenfalls aus Porzellan und aus weißem Email gebaut und fällt in leicht geschwungenen Formen, die einem Hochzeitskleid nachempfunden sind. Neben dem ewigen Kalender und einer Mondphasenanzeige enthält die Grande Dame auch ein im
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