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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Verhältnis zur Zeit sich automatisch fortsetzendes Spiel. Zu jeder Stunde öffnet sich der untere Kasten und präsentiert zwei kleine, bis in die einzelnen Glieder bewegliche Figuren, einen dunklen Herrn in türkischer Tracht und eine weiß gekleidete Dame. Die beiden Figuren sitzen an einem Tisch und spielen Schach. Bei jedem Erscheinen macht jede Figur einen Zug. Die Grande Dame verfügt über einen Satz von dreihundertfünfundsechzig Spielen,
ein Spiel für jeden Tag. Jedes Spiel endet um Mitternacht mit einem Schachmatt gegen Schwarz. Begleitet wird dieses Spiel durch ein alle sechs Stunden erklingendes Zimbal, welches im oberen Teil, direkt unter der Schachkönigin, in Erscheinung tritt. Mit zwei Hämmerchen spielt die weiß gekleidete Dame des Schachspiels darauf mehrere kurze Stücke.«
    »Und was ist daran so Besonderes?«, fragte der Polizeibeamte, ein verwaistes Zahnrad zwischen den Fingern, »komplizierte Uhren mit Musik- und Figurenspielen gibt es doch viele.«
    »Da haben Sie vollkommen recht, Herr Inspektor. Aber das ist auch noch nicht alles.« Albert Géraux nahm dem Beamten das Zahnrad aus der Hand. »Das Figurenspiel und die Verzierungen sind zwar außergewöhnlich, machen die Grande Dame aber noch nicht zu dem, was sie ist. Was sie einzigartig macht, und deswegen wurde sie meines Erachtens auch gestohlen, ist die Mechanik, das Material, woraus Jean-Louis Sovary das Uhrwerk gebaut hat.«
    Albert Géraux machte eine lange Pause. Sein Gesicht war nun kreideweiß, die Lippen aschgrau. »Die Grande Dame, Herr Inspektor, ist gänzlich aus menschlichen Gebeinen gebaut.«
    Der Polizeibeamte hob den Blick von der Auslage, die übrigen Polizisten rückten näher an den Tisch, alle schauten sie den Stiftungsverwalter fragend an.
    »Menschliche Gebeine? Wie meinen Sie das?« Jetzt klang die Stimme des Beamten leicht irritiert.
    »So wie ich es gesagt habe. Jean-Louis Sovary hat die Mechanik dieser Spieluhr aus den sterblichen Überresten,
genauer, aus den Knochen einer Frau gebaut, die damals, kurz vor ihrem Tod, in Südfrankreich mit außergewöhnlichen Schachpartien Furore gemacht hatte. Die ganze Uhr ist eine Hommage, eine Art Grabmal für die Frau, die Jean-Louis Sovary geliebt hat. Er glaubte, die sterblichen Überreste seiner Geliebten in dieser Art vor Grabschändern und Scharlatanen in Sicherheit bringen zu können. Aber nun ist dieser Friede wohl doch noch gestört worden.«
    »Und wer war diese Frau?«, fragte der Polizeibeamte und machte zwei ziellose Schritte.
    »Ihr richtiger Name war Ana de La Tour«, sagte Albert Géraux noch, dann verließen ihn die Kräfte. Er fiel in sich zusammen und verlor das Bewusstsein. Es dauerte mehrere Wochen, bis der Stiftungsverwalter die nötige Kraft aufbrachte, um die Geschichte des Herzstücks der Sammlung Géraux-Sovary, das Schicksal der Grande Dame und ihres Erbauers, des Neuenburger Uhrmachers und Erfinders Jean-Louis Sovary, dem zuständigen Polizeibeamten zu erzählen.

ERSTER TEIL

1
    Während des Ausläutens der Messe an einem warmen Frühlingstag im Jahr 1758 lag in dem kleinen jurassischen Dorf Le Locle ein Knabe im Kirchturm unter dem Glockenspiel und beobachtete die Bewegungen der Balken, der Seile, der kleinen und grossen Räder. Über ihm schlugen die Klöppel gegen die hin- und herschwingenden, gusseisernen Hüte. Akustische Explosionen platzten durch den Turm, drohten sein Zwerchfell zu zerreißen, fuhren durch Mark und Bein und ließen die Gänsehaut in Schüben über den ganzen Körper des Knaben wachsen. Es war Sonntag und der Tag seines zehnten Geburtstages. Einige Stockwerke tiefer zog sein Vater an den Seilen und setzte damit die Mechanik des Glockenspiels in Bewegung. Jean-Louis Sovary, der an diesem sonnigen Tag noch nichts wusste von seinem Uhrmacherschicksal, nur davon träumte, ein grosser Mechanicus zu werden, lag auf dem Bretterboden und ließ sich von den Klängen forttragen in die helle, klare Welt der Harmonien. Er hörte Unter- und Obertöne, kombinierte die leicht versetzten Schläge zu breiten, vielstimmigen Akkorden. Wie jeden Sonntag gab er sich voll und ganz diesem geliebten verschachtelten akustischen Spektakel hin, das durch sein Bewusstsein sauste wie ein Orkan, und sah Wiesen und Felder und Blumen, spazierte durch Gärten, fuhr königlich über den Neuenburger See,
den er noch nie gesehen hatte, vergaß das kleine Dorf Le Locle, die Hütte, in der er geboren worden war, den Stall, die stinkende Latrine hinter dem Haus.
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