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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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meisterhaft verarbeitet. Ich habe hier in meiner Tasche«, Jean-Louis klopfte auf seine leere Hosentasche, »ein letztes Detail, das für die Lieferung an den König von Spanien nicht fehlen darf!«
    »Wenn es denn sein muss! Du findest ihn bestimmt beim Jaquet-Droz, er wohnt Sur Le Pont, dort werden die Wagen gerade beladen. Die Abreise, so Gott will, ist in drei Tagen.«
    Jean-Louis brannte sich die Wegbeschreibung zum großen Meister Jaquet-Droz, die er von der missmutigen Frau schließlich erfahren konnte, in sein Gehirn, als handelte es sich um den geheimen Plan zu einem verborgenen Schatz. Er stapfte durch alten, nassen Schnee, riss seine Schuhe Schritt für Schritt aus dem Matsch und Schlamm der vom Frühjahrstau weich gewordenen Erde, kickte Steine und Eisschollen vom Weg, der zu jenem Hof führte, welcher seinem Schicksal und seinem Leben eine andere, eine von seinem Vater nicht vorgesehene Wendung geben sollte.
    Die Wagen standen draußen vor dem Haus, bereits beladen
mit Kisten und Gerät, bereit, eingespannt und gezogen zu werden, Jean-Louis konnte sich im Weg nicht geirrt haben. Die Räume zwischen den Kisten waren mit Stroh ausgestopft, um die Schläge der Steine und Löcher gegen die Wagenräder zu dämpfen. Wachsplanen lagen noch unvertäut über den Kisten. Offensichtlich war noch nicht alles geladen, und das war Jean-Louis’ Glück. Hätte er nur wenige Tage später Geburtstag gehabt, der Konvoi wäre bereits unterwegs gewesen. Aber nun war er hier, an dem verheißungsvollen Ort.
    »Was treibst du dich hier rum? Fass nur ja nichts an!«, hörte Jean-Louis plötzlich eine dunkle Stimme in seinem Rücken. Ein großer Mann mit hellen Augen und schweren Händen trat auf ihn zu, ein Brecheisen in der Hand, als wollte er den Eindringling damit vertreiben.
    »Schaulustigen ist der Zutritt hier strengstens verboten!«
    »Ich bin kein Gaffer, Herr Jaquet-Droz, oder, wie Sie es nennen, ein Schaulustiger! Ich komme wegen der Anstellung des Laufburschen für die Reise.«
    »Laufbursche? Wer erzählt denn so was? Wir brauchen keinen Laufburschen. Wer bist du überhaupt?«
    »Jean-Louis Sovary, Herr Jaquet-Droz, aus Le Locle, zu Ihren Diensten!«
    Zu Ihren Diensten hatte Jean-Louis noch nie zu jemandem gesagt, und gespannt wartete er auf die Wirkung dieser drei Worte.
    »Ich bin nicht Jaquet-Droz. Bist du etwa der Sohn des Gehäusebauers aus Le Locle?«
    »Der bin ich. Und Sie sind also Herr Sandoz. Wo kann ich denn Herrn Jaquet-Droz finden?«

    »Der hat jetzt keine Zeit, mach bloß, dass du hier wegkommst!«
    Dieser Mann hatte keine Ahnung und würde niemals verstehen, dass es für Jean-Louis um mehr ging, als seine Neugierde zu befriedigen. Und er war auch nicht eifersüchtig, wie viele andere Leute der Umgebung auf diese verrückte Reise. Für Jean-Louis ging es um sein Leben, um die alles entscheidende Wendung, die sein Schicksal an diesem Sonntag, seinem zehnten Geburtstag, nehmen sollte. Ohne auf die mahnenden und erbosten Worte des Louis Abraham Sandoz zu hören, betrat er das Haus und rief lauthals den Namen seines Erlösers. Der Flur, welcher von der Eingangstür in das Haus führte, war dunkel und still, die Türen links und rechts verschlossen. Aber dann hörte Jean-Louis Schritte, eine Tür sprang auf.
    »Was ist denn? Wo brennt’s?«, schmetterte ihm eine aus der Dunkelheit tretende Gestalt entgegen.
    Jean-Louis’ kleine Lüge vom Laufburschen war geplatzt. Stattdessen entlud sich seine ganze Geschichte in einem langen Redeschwall, der wie das Getriebe der Kirchenuhr die Begründung, weshalb Pierre Jaquet-Droz ihn, den kleinen Bauernsohn, auf die Reise nach Spanien mitnehmen solle, von einem Argument zum nächsten übersetzte. Atemlos redete er drauflos, in der Hoffnung, dass seine Unruh, deren Ursprung und Antrieb in Jean-Louis’ innerstem Herzen lag, sich auf die Überzeugung und die Entscheidung seines Gegenübers, auf den Meister Pierre Jaquet-Droz, persönlich übertrage. Jean-Louis redete sich in eine solche Begeisterung hinein, dass ihm schien, als hätte der große Meister ihn bereits aufgenommen in seine Mannschaft, als befänden sie sich schon mitten auf der
Reise, auf dem Weg zu seinem Leben als Konstrukteur und Erfinder. Als Jean-Louis die große Hand auf seiner Schulter spürte, schrak er auf, und sein Redeschwall setzte aus.
    »Wie heißt du denn?«, fragte Jaquet-Droz. Diese Frage verwirrte Jean-Louis, da er in seiner Begeisterung mit dem großen Lehrmeister bereits Freundschaft
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