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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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Karrenspuren, die sich wie wild wuchernde Schlingpflanzen irgendwo im Wald verloren.

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    Das Jesuitenkollegium in Porrentruy erschien Jean-Louis in den ersten Tagen wie eine Höhle, ein ins Erdinnere führender Stollen mit vielen verzweigten Gängen, dicken Mauern, gebaut aus aufeinandergeschichteten Steinen und mit brüchigem Mörtel zusammengehaltenen Felsbrocken. Gemeinsam mit den anderen neuen Schülern, die wie er staunend und ängstlich Fuß vor Fuß setzten oder mit einer gewissen überheblichen Langeweile schwiegen, wurde Jean-Louis durch dieses mit Kalkmilch aufgehellte Flur-, Treppen- und Zimmerlabyrinth geführt. Das kleine von zu Hause mitgenommene Bündel Wäsche auf dem Rücken, darin eingewickelt sein letzter Funke Hoffnung, die Werkzeuge von Meister Pierre Jaquet-Droz. Es war ihm gelungen, dieses Bündel vor seinem Vater, sogar vor der Mutter und den Schwestern verborgen zu halten und es in sein Gepäck zu schmuggeln, und nun lag es hier zwischen Hemd und Hose neben seinem Bett in dem großen Schlafsaal, den er sich mit fünfzig anderen Schülern teilte. Die vielen langen Stunden, die er jetzt täglich mit Latein, Französisch, Arithmetik, mit dem Studium der Geschichte, Philosophie, Theologie und des Katechismus verbrachte, überstand er nur, weil er sich im Geheimen an diesen einen kleinen Satz des Meisters Pierre Jaquet-Droz klammern konnte: Mit diesen paar Werkzeugen, Jean-Louis,
steht dir die Welt offen, mit diesen Instrumenten kannst du bauen, wonach dir der Sinn steht, das Einzige, was du brauchst, ist dein Kopf, deine Ideen, deine Phantasie, deine Imagination.
    Statt des Morgen-, Abend- oder Tischgebetes rezitierte Jean-Louis innerlich diese Worte in unendlicher Wiederholung. Während seine Zunge Verse eines Horaz oder Boileau las, komponierte er kleine Gedichte rund um die Worte Pierre Jaquet-Droz’. Statt sich mit Rhetorik und Grammatik zu beschäftigen, führte er innere Monologe, die, hätte er sie aufgeschrieben, an Verve und argumentativer Durchschlagskraft allen anderen in diesen Räumen geschriebenen Aufsätzen und rhetorischen Stilübungen, seine eigenen eingeschlossen, turmhoch überlegen waren. Jeden Abend schmiegte er sich an sein Hoffnungsbündel, das unter dem Kissen seinen angestammten Platz gefunden hatte. Jeden Tag trug er eines der Werkzeuge in seiner Hosentasche mit sich, und wenn er in den Pausen und während den wenigen Stunden Freizeit ein Stück Holz, etwas Draht oder gar ein altes, verrostetes Stück Eisen fand, steckte er dieses ein und brachte es in die Kiste mit Material, die er sich unter seinem Bett eingerichtet hatte. Bereits nach wenigen Wochen waren auf diese Weise eine ganze Sammlung alter Nägel, einige kleinere und größere Holzplatten, viele kurze und ein paar lange Drahtstücke, etwas Tuch und Schnur in allen Dicken und Stärken zusammengekommen, so dass Jean-Louis bald an eine erste kleine Konstruktion denken konnte.
    Die inneren Monologe, von denen niemand etwas wußte, und das notorische Sammeln von Schrott machten aus Jean-Louis einen kauzigen Einzelgänger. Statt mit anderen
Schülern Freundschaft zu schließen, hockte er an seinem Bett und kramte in seiner Materialkiste. Statt sich mit Kollegen über die Mathematikaufgaben auszutauschen und sich gegenseitig zu helfen, löste er sie allein und doppelt so schnell wie alle andern. Während die einen noch an ihrem Aufsatz schrieben, skizzierte Jean-Louis kuriose, unverständliche Konstruktionen. In der Zeit, in der seine Mitschüler sich krampfhaft durch einen lateinischen Text kämpften, hatte Jean-Louis längst eine Zusammenfassung geschrieben und diese dem lehrenden Bruder abgegeben, um sich der Mechanik von Spannkraft und Auslöser zu widmen. In der achtundzwanzigsten Woche seines Aufenthaltes am Kollegium war es ihm gelungen, eine Falle so zu bauen, dass die Mäuse, die sich im Schlafraum des Kollegiums nachts geräuschvoll auf die Jagd nach den von Schülern heimlich aus dem Essraum geschmuggelten Brotund Käsestücken machten, eine nach der anderen darin in Gefangenschaft gerieten, ohne sich dabei ein Bein, ein Ohr oder den Schwanz zu verletzen oder sich das Genick zu brechen. Das Krachen des zuschlagenden Deckels der kleinen Holzkiste, die Jean-Louis zu diesem Zweck gebaut hatte, sorgte einige Abende lang für Aufsehen. Das Geschrei und Gejohle der aufgeweckten Bubenschar brachten Bruder Pius, den Nachtwächter, dazu, seine Liegepritsche im Schlafsaal aufzustellen, um von hier aus wachend und
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