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Minotaurus

Minotaurus

Titel: Minotaurus
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Friedrich
    Dürrenmatt

    Minotaurus

    Eine Ballade
    Mit Zeichnungen des Autors

    Non-profit ebook by tigger
    Oktober 2003
    Kein Verkauf!

    Verlag
    Volk und Welt
    Berlin

    1. Auflage
    Lizenzausgabe des Verlages Volk und Welt, Berlin 1987
    für die Deutsche Demokratische Republik
    L. N. 302, 410/58/87
    Copyright © 1985 by Diogenes Verlag AG Zürich Alle Rechte vorbehalten
    Printed in the German Democratic Republic
    Druck und Einband: Sachsendruck Flauen
    ISBN 3-353-00173-5

    Für Charlotte

    Das Wesen, das die Tochter des Sonnengottes, Pasiphae, geboren hatte, nachdem sie auf ihren Wunsch hin eingeschlossen in eine künstliche Kuh von einem dem Poseidon geweihten weißen Stier bestiegen worden war, fand sich, von den Knech-ten des Minos hineingeschleppt, die lange Ketten bildeten, um sich nicht zu verlieren, nach langen Jahren eines wirren Schlafs, währenddessen es in einem Stall zwischen Kühen heranwuchs, auf dem Boden des Labyrinths vor, das von Daidalos erbaut worden war, um die Menschen vor dem Wesen und das Wesen vor den Menschen zu schützen, einer Anlage, aus der keiner, der sie betreten hatte, wieder herausfand und deren unzählige in sich verschachtelte Wände aus Glas waren, so daß das Wesen nicht nur seinem Spiegelbild gegenüberkauerte, sondern auch den Spiegelbildern seiner Spiegelbilder: Es sah unermeßlich viele Wesen, wie es eines war, vor sich, und wie es sich herum-drehte, um sie nicht mehr zu sehen, unermeßlich viele ihm gleiche Wesen wiederum vor sich. Es befand sich in einer Welt voll kauernder Wesen, ohne zu wissen, daß es selber das Wesen war. Es war wie gelähmt. Es wußte nicht, wo es war, noch was die kauernden Wesen rundherum wollten, vielleicht träumte es nur, auch wenn es nicht wußte, was Traum war und was Wirk-lichkeit. Es sprang auf, instinktiv, um die kauernden Wesen zu vertreiben, gleichzeitig sprangen seine Spiegelbilder auf. Es duckte sich, und mit ihm duckten sich seine Spiegelbilder. Sie ließen sich nicht vertreiben. Es starrte auf das Spiegelbild, das ihm am nächsten schien, kroch langsam zurück, und auch sein Spiegelbild wich von ihm weg, sein rechter Fuß stieß an eine Wand, es warf sich herum und fand sich Kopf an Kopf mit seinem Spiegelbild, kroch vorsichtig zurück, sein Spiegelbild kroch zurück. Unwillkürlich betastete es seinen Kopf, und wie es ihn betastete, betasteten auch seine Spiegelbilder ihren Kopf.
    Es erhob sich, und mit ihm erhoben sich auch seine Spiegelbilder. Es sah seinen Leib hinunter und verglich ihn mit dem Leib seiner Spiegelbilder, und seine Spiegelbilder sahen ihren Leib 5

    hinunter und verglichen ihn mit ihrem Leib, und indem es sich und seine Spiegelbilder betrachtete, erkannte es, daß es wie seine Spiegelbilder beschaffen war: Es glaubte, ein Wesen unter vielen gleichen Wesen zu sein. Sein Gesicht wurde freundlicher, die Gesichter seiner Spiegelbilder wurden freundlicher. Es winkte ihnen zu, sie winkten zurück, es winkte mit der rechten, sie winkten mit der linken Hand, aber es wußte weder was rechts noch was links war. Es reckte sich, streckte die Arme aus, brüllte, mit ihm reckte sich, streckte die Arme aus und brüllte eine Unzahl gleicher Wesen, tausendfach scholl sein Echo zurück, schien endlos zu brüllen. Ein Glücksgefühl überkam es. Es näherte sich der nächsten Wand aus Glas, ein Spiegelbild näherte sich ihm ebenfalls, während gleichzeitig sich andere Spiegelbilder entfernten. Es berührte sein Spiegelbild mit der Rechten, berührte die Linke seines Spiegelbilds, die sich glatt und kalt anfühlte, vor ihm berührten sich in Spiegelbildern von Spiegelbildern die anderen Spiegelbilder.
    Es lief, den glatten Spiegel berührend, die Wand entlang, seine rechte Hand die linke seines Spiegelbilds deckend, mit ihm lief sein Spiegelbild, und wie es nun die Rückseite der 6

    Spiegelwand zurücklief, lief sein Spiegelbild auch zurück. Es wurde übermütiger, sprang herum, überschlug sich, und mit ihm sprang und überschlug sich eine Unermeßlichkeit von Spiegelbildern. Aus dem Herumrennen und dem Sich-Überschlagen, aus den Sprüngen und dem Auf-den-Händen-Gehen — so groß wurde sein Übermut, weil die Spiegelbilder ja gleichzeitig dasselbe taten wie es, so daß es sich wie ein Anführer vorkam, mehr noch, wie ein Gott, wenn es gewußt hätte, was ein Gott ist
    —, aus dieser kindlichen Freude wurde allmählich ein rhythmi-scher Tanz des Wesens mit seinen Spiegelbildern, die teils spiegelverkehrt, teils als Spiegelbilder
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