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Minotaurus

Minotaurus

Titel: Minotaurus
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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sein, er tanzte 9

    seine Erlösung, und es tanzte sein Schicksal, er tanzte seine Gier, und es tanzte seine Neugier, er tanzte sein Herandrängen, und es tanzte sein Abdrängen, er tanzte sein Eindringen, es tanzte sein Umschlingen. Sie tanzten, und ihre Spiegelbilder tanzten, und er wußte nicht, daß er das Mädchen nahm, er konnte auch nicht wissen, daß er es tötete, wußte er doch nicht, was Leben war und was Tod. In ihm war nichts als ein ungestümes Glück, eins mit einer ungestümen Lust. Er brüllte auf, als er das Mädchen nahm, und in den Spiegeln nahmen Minotauren Mädchen, und das Brüllen war ein ungeheuerlicher Schrei, ein unwirklicher Weltschrei, als wäre nichts als dieser Schrei, der sich mit dem Schrei des Mädchens vermischte, und dann lag er da, und in den Spiegeln lagen Minotauren da, und der weiße nackte Leib des Mädchens mit den großen schwarzen Augen lag da und spiegelte sich in den Wänden. Er hob den linken Arm des Mädchens, er fiel herunter, den rechten, er fiel herunter, überall fielen Arme herunter. Er leckte es mit seiner bläulichroten Riesenzunge, das Gesicht, die Brüste, das Mädchen blieb unbeweglich, alle Mädchen blieben unbeweglich. Er wälzte es mit den Hörnern herum, das Mädchen rührte sich nicht, kein Mädchen rührte sich. Er erhob sich, sah sich um, überall standen Minotauren und schauten sich um, und überall lagen zu ihren Füßen weiße Mädchenleiber. Er bückte sich, hob das Mädchen auf, brüllte, klagte, hob das Mädchen dem dunklen Himmel entgegen, und überall bückten sich Minotauren, hoben Mädchen auf, brüllten, klagten, hoben Mädchen dem dunklen Himmel entgegen, und dann legte er das Mädchen zwischen die gläsernen Wände, legte sich zu ihm und schlief ein, und mit ihm alle Minotauren, hingestreckt auf dem Boden voller weißer nackter Mädchenleiber. Er schlief und träumte vom Mädchen mit den schwarzen Haaren und den großen Augen, jagte ihm nach, spielte mit ihm, riß es an sich, liebte es, und als er die Augen öffnete, war auf seiner Brust etwas in seinem verkrusteten Bart verkrallt.

    10

    Es streifte mit seinen Schwingen sein Flotzmaul und tauchte seinen nackten gelblichweißen Hals mit dem kleinen Kopf, den roten Augen und dem seltsam gebogenen mächtigen Schnabel irgendwohin neben ihm hinab. Auf den Wänden hockte ein fettes Dickicht von Federn, Hälsen, Augen, Schnäbeln, und über ihm kreiste es, den aufgrauenden Morgen verfinsternd, stieß herab, tauchte, riß, weidete, fledderte, wühlte, fraß, kreischte, flog davon, flog heran, stieß wieder herab, spiegelte sich im Herabfallen und im Hinaufsteigen, ohne daß er begriff, warum es herabstieß, hineintauchte, riß, hinaufstieg, herumkrei-ste, so sehr war er eingehüllt vom Geflatter und Flügelschlagen, und als es sich, immer höher kreisend, im überhellen Nichts des nun gleißenden Himmels auflöste, brach die Sonne durch die gläsernen Wände und brannte ihr Bild in sein Hirn als ein gewaltiges, sich drehendes Rad, das Feuergarben in den Himmel stieß zum Zeichen ihres Zorns über den Frevel ihrer Tochter Pasiphae, die ein Wesen geboren hatte, das, eine 11

    Beleidigung der Götter und ein Fluch den Menschen, verdammt war, weder Gott noch Mensch noch Tier, sondern nur Minotaurus zu sein, schuldlos und schuldig zugleich. Er sah das unermeßliche, sich hinaufwälzende Rad, er hielt die Augen geschlossen, er sah es dennoch, das Rad des Fluches, der auf ihm lastete, das Rad seines Geschicks, das Rad seiner Geburt und das Rad seines Todes, das Rad, das in seinem Hirn brannte, ohne daß er wußte, was Fluch, Geschick, Geburt und Tod war, das Rad, das sich über ihn wälzte, das Rad, worin er gerädert war, und wie er dalag, versengt von der Sonne und von ihrem endlos widergespiegelten Licht, bemerkte er schattenhaft einen Fuß, der seinem Fuß glich. Er dachte, es sei das Mädchen, es sei wieder beweglich geworden und wolle mit ihm spielen. Er hob seinen Kopf, und nun sah er zwei Füße, die zurückwichen. Er erhob sich. Vor ihm stand ein Wesen, das dem Mädchen glich und doch nicht das Mädchen war, das in der Linken einen zerfetzten Mantel und in der Rechten ein Schwert hielt, und der Minotaurus wußte weder, was ein Mantel noch was ein Schwert war, er wußte nur — weil im blendenden Licht der Sonne die Wände kein Bild mehr zurückwarfen —, daß die Minotauren und die Mädchen ihn verlassen hatten, und auch das Mädchen, das er genommen hatte, mußte wieder beweglich geworden und
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