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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage
Autoren: Isabel Allende
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anzufangen fällt mir zusehends schwerer, weil ich mit den Jahren die Selbstgewißheit der Jugend verloren habe. Ein neues Buch ist so ernst wie eine neue Liebe, erfordert denselben unbesonnenen Impuls, dieselbe besessene Hingabe. Bei jedem neuen Buch frage ich mich – wie bei einer neuen Liebe –, ob meine Kraft ausreicht, um bis ans Ende zu gehen, ob sich die Mühe überhaupt lohnt: zu viele Seiten werden umsonst geschrieben, zu viel Herzblut umsonst vergossen. Früher gab ich mich dem Schreiben – und der Liebe – mit der Kühnheit dessen hin, der die Risiken nicht kennt, heute dagegen vergehen oft Wochen, bis ich den Respekt vor dem leeren Computerbildschirm verliere. Wie wird dieses Buch werden? Werde ich es zu Ende bringen können? Über die Liebe stelle ich mir solche Fragen nicht mehr, lebe ich doch seit über achtzehn Jahren mit demselben Geliebten zusammen und habe meine Zweifel längst überwunden; heute liebe ich Willie jeden Tag neu, ohne mich zu fragen, wie diese Liebe ist und wie sie enden wird. Ich möchte glauben, daß es eine elegante Liebe ist, die kein Allerweltsende nehmen kann. Vielleicht stimmt ja, was Willie sagt: daß wir auch nach dem Tod Hand in Hand gehen werden. Ich hoffe nur, daß keiner von uns sich in die Senilität davonschleicht und der andere einen gebrechlichen Leib pflegen muß. Bis zum letzten Tag zusammen und klar im Kopf zu leben, das wäre das Schönste.
    Wie immer, wenn ich mit einem Buch beginne, säuberte ich erst gründlich meinen Bau, lüftete durch, tauschte die Kerzen auf dem Altar der »Ahnen«, wie meine Enkel ihn nennen, und packte Kisten voll mit Skizzen undRecherchematerial des vorangegangenen Projekts. In den Regalen ringsum blieben nur in dichten Reihen die Erstausgaben meiner Bücher und die Bilder der Lebenden und Toten, die mich immer begleiten. Ich räumte alles hinaus, was der Inspiration im Weg sein oder mich von meinen Erinnerungen ablenken könnte, die einen klaren Raum brauchen, um erzählt zu werden. Für mich begann die Zeit des Alleinseins und der Stille. Immer dauert es eine Weile, bis ich in Fahrt komme, mein Schreiben stockt wie ein eingerosteter Motor, und ich weiß, es werden einige Wochen vergehen, bis die Konturen dessen, was ich erzählen will, sich deutlich abzeichnen. Ich darf mich nicht ablenken lassen. Was den Musen auf die Sprünge hilft? Alles, was ich erlebt habe, meine Erinnerungen, die Weite der Welt, die Menschen, die ich kenne, und auch die Wesen und Stimmen, die ich in mir trage und die mir bei der Reise durch mein Leben und mein Schreiben zur Seite stehen. Für meine Großmutter war der Raum voller Erscheinungen, war angefüllt mit dem, was war, was ist und was sein wird. In diesem transparenten Raum sind meine Figuren zu Hause, aber ich kann sie nur hören, wenn ich still bin. Etwa in der Mitte jedes Buchs, wenn ich nicht mehr ich bin, die Frau, sondern eine andere, die Erzählerin, kann ich die Figuren auch sehen. Sie tauchen aus dem Zwielicht auf und stehen leibhaftig vor mir, ich kann ihre Stimmen hören und ihren Geruch atmen, sie überfallen mich in meinem Häuschen, drängen sich in meine Träume, bevölkern meine Tage und verfolgen mich sogar auf der Straße. Aber wenn ich mein Leben niederschreibe, ist es anders, weil die Figuren Menschen aus meiner Familie sind, die leben, die ihre Vorstellungen und ihre Konflikte haben. Hier geht es nicht darum, die Phantasie anzustacheln, sondern um den Versuch, das Erlebte wirklich nachzuvollziehen.
    Die Mehrheit im Land fühlte sich frustriert, und das schon seit zu langer Zeit: Die Zukunft der Welt sah schwarz und zäh wie Pech aus. Im Nahen Osten eskalierte die Gewalt, daß einem angst und bange werden mußte, und die Politik der Vereinigten Staaten wurde international einhellig verurteilt, aber Präsident Bush hörte nicht zu, redete wie ein Schwachsinniger, ohne Sinn für die Realität und umgeben von Großtuern. Die Schlappe des Irakkriegs war nicht mehr zu verbergen, auch wenn die Presse bisher nur aseptische Bilder lieferte: Panzer, grüne Lichter am Horizont, Soldaten, die durch verlassene Dörfer laufen und manchmal eine Explosion auf einem Markt, wo die Opfer Iraker waren, vermutlich, aus der Nähe zu sehen bekamen wir sie nicht. Kein Blut, keine verkrüppelten Kinder. Die Korrespondenten hatten bei der Truppe zu bleiben und ihre Berichte vor Veröffentlichung durch den Militärapparat zu schleusen, aber über Internet konnte, wer wollte, die Nachrichten aus dem Rest
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