Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage
Autoren: Isabel Allende
Vom Netzwerk:
der Welt empfangen, selbst arabisches Fernsehen. Einige mutige Journalisten – und sämtliche Satiriker des Landes – legten die Inkompetenz der Regierung bloß. Die Bilder aus dem Gefängnis von Abu Ghraib gingen um die Welt, und in Guantánamo, wo die Gefangenen auf unbestimmte Zeit ohne Anklage festgehalten wurden, starben Insassen unter ungeklärten Umständen, brachten sich um oder versuchten sich zu Tode zu hungern, zwangsernährt über dicke Schläuche, die ihnen bis in den Magen geschoben wurden. Es geschah, was noch kurz zuvor kein Mensch in den Vereinigten Staaten für möglich gehalten hatte, einem Land, das sich gern als leuchtendes Beispiel für Demokratie und Gerechtigkeit darstellt: Das Habeas-Corpus-Prinzip wurde außer Kraft gesetzt und Folter legalisiert. Ich dachte, die Bevölkerung werde massenhaft dagegen protestieren, aber kaum jemand ließ dem Geschehen die Aufmerksamkeit zukommen, die es verdient hätte. Ich komme aus Chile, einem Land, in dem Folter sechzehn Jahre lang zumSystem gehörte; ich weiß um den nie wiedergutzumachenden Schaden, den sie in der Seele der Opfer anrichtet, bei den Tätern und in einer ganzen Gesellschaft, die zum Komplizen wird. Laut Willie waren die USA seit dem Vietnamkrieg nicht mehr derart tief gespalten gewesen. Die Republikaner kontrollierten alles, und wenn die Demokraten die Kongreßwahlen im November nicht gewännen, wären wir geliefert. ›Wie sollten sie nicht gewinnen?‹ fragte ich mich, ›wo Bushs Popularität gesunken ist auf Werte, die Nixon in seinen übelsten Zeiten hatte.‹
    Am schlimmsten war es für Tabra. In jungen Jahren hatte sie ihr Land verlassen, weil sie den Krieg in Vietnam nicht aushalten konnte; nun schickte sie sich an, dasselbe noch einmal zu tun, wollte sogar die amerikanische Staatsbürgerschaft aufgeben. Sie träumte davon, ihre Tage in Costa Rica zu beschließen, aber viele Ausländer hatten dieselbe Idee, und die Immobilienpreise waren über das für sie Erschwingliche geklettert. Also entschied sie sich, nach Bali zu gehen, wo sie ihr Geschäft mit den ortsansässigen Goldschmieden und Steinschneidern würde weiterführen können. Zwei Handelsvertreter für die Vereinigten Staaten würde sie behalten, die übrigen Verkäufe konnten über Internet abgewickelt werden. Wir sprachen auf unseren Wanderungen über nichts anderes mehr. Überall sah Tabra dunkle Vorzeichen, ob in den Fernsehnachrichten oder in einer Meldung über Quecksilber im Lachs.
    »Glaubst du, in Bali ist das anders?« wollte ich wissen. »Wohin du auch gehst, der Lachs wird voll Quecksilber sein, Tabra. Man kann dem nicht entkommen.«
    »Zumindest bin ich dort nicht mitverantwortlich für die Verbrechen dieses Landes. Du bist aus Chile fortgegangen, weil du nicht unter einer Diktatur leben wolltest. Wieso verstehst du nicht, daß ich hier nicht leben will?«
    »Weil es keine Diktatur ist.«
    »Es kann aber schneller eine werden, als du denkst. Wasdein Onkel Ramón sagt, stimmt: Jedes Land wählt die Regierung, die es verdient. Das ist der Nachteil an der Demokratie. Du solltest auch gehen, ehe es zu spät ist.«
    »Hier lebt meine Familie. Es hat mich viel Kraft gekostet, sie zusammenzubringen, Tabra, und ich will es genießen, weil ich weiß, daß es nicht von Dauer ist. Das Leben neigt dazu, uns auseinanderzubringen, und dem muß man mühsam entgegenwirken. Und jedenfalls denke ich nicht, daß es schon nötig wäre, das Land zu verlassen. Noch können wir etwas ändern. Bush wird nicht ewig währen.«
    »Dann viel Glück. Ich suche mir jedenfalls einen friedlichen Ort, und du kannst mit deiner Familie nachkommen, sollte das nötig sein.«
    Ich begann mich zu verabschieden, während sie ihre Werkstatt auflöste, die sie so viele Jahre hindurch aufgebaut hatte; Tongi half ihr, hatte seine Arbeit gekündigt, um seiner Mutter in den letzten Monaten zur Seite zu stehen. Einen nach dem anderen entließ Tabra die Flüchtlinge, mit denen sie lange Zeit gearbeitet hatte und um die sie sich sorgte, weil sie wußte, daß es für manche von ihnen sehr schwer werden würde, eine neue Stelle zu finden. Sie verkaufte den größten Teil ihrer Kunstsammlung, außer einigen wertvollen Bildern, die sie mir zur Aufbewahrung gab. Sie konnte ihre Verbindung in die Vereinigten Staaten nicht restlos kappen, mindestens zweimal im Jahr würde sie herkommen müssen, um ihren Sohn zu sehen und ihre Geschäfte zu überwachen, denn ihr Schmuck braucht einen Markt, der größer ist als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher