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Dave Duncan

Dave Duncan

Titel: Dave Duncan
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    Lange bevor die Götter und die Sterblichen die Weltenbühne betraten, stand der große Felsen von Krasnegar für immer und unvergänglich zwischen Stürmen und dem Eis des Wintermeeres. In langen arktischen Nächten schimmerte er unter dem betörenden Tanz der Morgenröte und den Strahlen des kalten, traurigen Mondes, während sich das Packeis in sinnloser Wut an seinem Fuße rieb. In der Sommersonne lag er gelb und kantig auf dem gleißenden Weiß und Blau des Meeres wie eine Scheibe Käse auf einem kostbaren Porzellanteller. Wetter und Jahreszeiten kamen und gingen, doch der Felsen bestand unverändert fort und schenkte ihnen nicht mehr Beachtung als den vorbeiziehenden Generationen der Menschheit.
    Zwei Seiten des Felsens fielen steil in die Brandung hinab; sie waren übersät mit schmalen Felsvorsprüngen – nur für die schreienden Wasservögel erreichbar. Die dritte Seite aber war weniger abschüssig, und auf diesem langen, wilden Hang klammerte sich eine kleine Stadt wie eine Ansammlung von Schwalbennestern fest. Über dem ärmlichen Durcheinander der Häuser, ganz oben auf dem Felsen, streckte ein Schloß schwarze, spitze Türmchen dem Himmel entgegen.
    Menschenhand hätte diese Steine in einem so entlegenen und wilden Land nicht aufeinander schichten können. Das Schloß war viele Jahrhunderte zuvor von dem großen Zauberer Inisso erbaut worden, als Palast für ihn und die Dynastie, die er damals begründete. Seine Nachkommen herrschten dort immer noch, in direkter und ungebrochener männlicher Linie… doch der gegenwärtige Monarch, der gute König Holindarn, geliebt von seinem Volk, hatte nur ein einziges Kind – seine Tochter Inosolan.

    In Krasnegar wurde es spät Sommer. Wenn die Einwohner von Gebieten milderen Klimas bereits ihre Schafe und Hühner zählten, tobten hier immer noch die heftigen Stürme des Wintermeeres, und während die glücklichen Bewohner des Südens bereits Heu machten und Beeren sammelten, lagen die engen Gassen und Wege des Nordens noch unter dichten Schneewehen. Selbst wenn die Nächte schon beinahe vom blassen, arktischen Himmel verbannt waren, lagen die Hügel am Ufer braun und welk. So war es immer. Jedes Jahr könnte ein Fremder alle Hoffnung aufgeben und annehmen, daß hier der Sommer niemals käme. Doch die Einheimischen wußten es besser und erwarteten mit geduldiger Resignation den Wetterumschwung.
    Immer wurde ihr Vertrauen belohnt. Ohne Vorwarnung blies ein kräftiger Wind über das Land und trieb die Eisschollen aus dem Hafen, die Hügel warfen beinahe über Nacht ihr winterliches Gefieder ab, und die Schneewehen in den Gassen schrumpften schnell zu schmutziggrauen Häufchen, die im Schatten der Straßenecken dahinschmolzen. Einige Tage Regen, und die Welt war wieder grün, schönes Wetter folgte dem trüben so schnell wie ein Wimpernschlag. Man muß an den Frühling in Krasnegar glauben, so sagten die Einwohner, um ihn zu sehen.
    Jetzt war es geschehen. Sonnenlicht ergoß sich durch die Fenster des Schlosses. Die Fischerboote wurden zu Wasser gelassen. Die Flut hatte eingesetzt, die Küstenlinie war eisfrei und wartete offensichtlich darauf, wieder befahren zu werden. Inos erschien zeitig beim Frühstück und machte eifrig Pläne für den Tag.
    Die große Halle lag beinahe verlassen da. Noch vor Beginn des schönen Wetters hatten einige Bedienstete des Königs das Vieh über den Damm zum Festland getrieben. Andere waren jetzt draußen bei den Wagen und am Hafen, räumten die Überreste des Winters zur Seite und bereiteten sich auf die hektische Arbeit des Sommers vor. Inos Hauslehrer, Meister Poraganu, war glücklicherweise durch seinen üblichen FrühlingsRheumaanfall indisponiert; von ihm würden keine Einwände zu hören sein, so daß sie sich zu den Ställen begeben konnte, sobald sie ein paar Bissen zu sich genommen hatte. 
    Tante Kade saß in einsamer Pracht an dem hohen Tisch.
    Für einen Moment erwog Inos, sich wieder zurückzuziehen und in der Küche nach etwas Eßbarem zu suchen, doch sie war schon bemerkt worden. Sie kam also näher und gab sich ruhig und gelassen, die königliche Würde sollte ihre schäbige Kleidung kompensieren.
    »Guten Morgen, Tante«, sagte sie heiter. »Ein schöner Morgen?« »Guten Morgen, Liebes.«
    »Du bist früher als – uff!« Inos hatte nicht vorgehabt, diese letzte Bemerkung zu machen, aber die Verschlüsse ihrer Kleidung wollten zerreißen, als sie sich setzte. Sie lächelte unbehaglich, und ihre Ärmel glitten
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