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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage
Autoren: Isabel Allende
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er ist an meine Berührung gewöhnt, an meine Schlaflosigkeit und meine schweren Träume. Und wenn ich noch so viel nachts umherwandere, Olivia, die auf einer Bank am Fußende des Bettes schläft, wird auch nicht wach. Nichts vermag den Schlaf dieser dusseligen Hundedame zu stören, die Hausmäuse nicht, die sich manchmal aus ihren Löchern wagen, nicht das Odeur der Skunks bei der Paarung, nicht das Wispern der rastlosen Seelen im Dunkeln. Würde ein wahnsinniger Axtmörder bei uns einbrechen, sie wäre die letzte, die es mitkriegte. Sie ist über die Humane Society zu uns gekommen, ein mitleiderregendes Geschöpf mit einem gebrochenen Bein und mehreren angeknacksten Rippen, das man auf einer Müllkippe aufgelesen hatte. Einen Monat kauerte sie zitternd im Wandschrank zwischen meinen Schuhen, erholte sich aber nach und nach von den erlittenen Mißhandlungen, und als sie schließlich mit hängenden Ohren und niedergedrücktem Schwanz aus ihrem Versteck schlich, wurde uns klar, daß sie als Wachhund nicht zu gebrauchen ist: Sie schläft wie ein Stein.
    Endlich legte sich der Zorn des Sturms, und mit demersten hellen Schimmer im Fenster stand ich auf, duschte und zog mich an, während Willie in seinem Morgenmantel eines übernächtigten Scheichs in der Küche verschwand. Der Duft frisch gemahlenen Kaffees war wie ein Streicheln für mich – Aromatherapie. Unsere tägliche Routine schafft mehr Nähe zwischen uns als der Taumel der Leidenschaft; sind wir getrennt voneinander, ist es dieser behutsame Tanz, der uns am meisten fehlt. Wir brauchen das Gefühl, daß der andere bei uns ist, in diesem geschützten Raum, der allein uns gehört. Ein kühler Morgen, Kaffee mit Toastbrot, Zeit zum Schreiben, eine Hündin, die mit dem Schwanz wedelt, und mein Liebster: Besser könnte das Leben nicht sein. Danach nahm Willie mich zum Abschied in die Arme, denn ich brach zu einer langen Reise auf. »Viel Glück«, wünschte er mir leise wie jedes Jahr an diesem Tag, und ich ging mit Mantel und Regenschirm sechs Stufen vorm Eingang hinunter, am Pool entlang, siebzehn Meter durch den Garten und betrat das Häuschen, in dem ich schreibe, meinen Bau. Und hier bin ich jetzt.
    Kaum hatte ich die Kerze angezündet, die mir beim Schreiben stets leuchtet, als meine Agentin Carmen Balcells aus Santa Fe anrief, diesem Dorf der verrückten Bergziegen südlich von Barcelona, aus dem sie stammt. Dort will sie ihre reifen Jahre in Frieden verbringen, weil sie aber nicht weiß, wohin mit ihrer Energie, kauft sie Haus für Haus den Ort auf.
    »Lies mir den ersten Satz vor«, bat mich diese Übermutter.
    Einmal mehr erklärte ich ihr, daß zwischen Kalifornien und Spanien neun Stunden Zeitdifferenz liegen. Von einem ersten Satz konnte die Rede noch nicht sein.
    »Schreib über dein Leben, Isabel.«
    »Das habe ich doch schon getan, weißt du das nicht mehr?«
    »Das ist dreizehn Jahre her.«
    »Meine Familie sieht sich nicht gern an die Öffentlichkeit gezerrt, Carmen.«
    »Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Schick mir einen Brief von zwei-, dreihundert Seiten und laß den Rest meine Sorge sein. Wenn man sich zwischen einer Geschichte und der beleidigten Verwandtschaft zu entscheiden hat, wählt jeder professionelle Schriftsteller die Geschichte.«
    »Sicher?«
    »Ganz sicher.«

Erster Teil

Die dunkelsten Wasser
    In der zweiten Dezemberwoche des Jahres 1992, als es eben zu regnen aufgehört hatte, brachen wir im Kreis der Familie auf, um deine Asche auszustreuen, wie du, Paula, das, lange bevor du krank geworden warst, in einem Brief verfügt hattest. Dein Mann Ernesto war aus New Jersey, dein Vater aus Chile angereist, kaum daß wir sie über das Geschehene benachrichtigt hatten. Sie trafen rechtzeitig ein, um von dir Abschied zu nehmen – du lagst aufgebahrt unter einem weißen Laken –, ehe man dich zur Einäscherung brachte. Danach versammelten wir uns in einer Kirche, hörten die Messe und weinten miteinander. Dein Vater hätte eigentlich nach Chile zurückgemußt, wartete jedoch, daß der Regen nachließ, und als sich zwei Tage später schließlich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen zeigten, fuhr die ganze Familie in drei Autos zu einem Wald. Dein Vater saß im ersten Wagen und führte uns. Er kennt sich hier nicht aus, hatte die Gegend aber in den Tagen zuvor durchstreift und nach dem Ort gesucht, der dir der liebste gewesen wäre. Es gibt hier viele Stellen, die man hätte wählen können, die Natur ist verschwenderisch, doch durch
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