Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
Vom Netzwerk:
Ferdinand von Schirach
     
    Schuld
     
    Stories
     
    Die Dinge sind, wie sie sind.
    Aristoteles
     
     
    Volksfest
     
    Der erste August war selbst für
diese Jahreszeit zu heiß. Die Kleinstadt feierte ihr sechshundertjähriges
Bestehen, es roch nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte, und der Bratdunst
von fettigem Fleisch setzte sich in den Haaren fest. Es gab alle Stände, die es
immer auf Jahrmärkten gibt: Es war ein Karussell aufgestellt worden, man konnte
Autoscooter fahren und mit Luftgewehren schießen. Die Älteren sprachen von
»Kaiserwetter« und »Hundstagen«, sie trugen helle Hosen und offene Hemden.
     
    Es waren ordentliche Männer mit
ordentlichen Berufen: Versicherungsvertreter, Autohausbesitzer, Handwerker. Es
gab nichts an ihnen auszusetzen. Fast alle waren verheiratet, sie hatten Kinder,
bezahlten ihre Steuern und Kredite und sahen abends die Tagesschau. Es waren
ganz normale Männer, und niemand hätte geglaubt, dass so etwas passieren
würde.
     
    Sie spielten in einer Blaskapelle.
Nichts Aufregendes, keine großen Sachen, Weinkönigin, Schützenverein,
Feuerwehr. Einmal waren sie beim Bundespräsidenten gewesen, sie hatten im Garten
gespielt, danach hatte es kaltes Bier und Würstchen gegeben. Das Foto hing
jetzt im Vereinshaus, das Staatsoberhaupt selbst war nicht zu sehen, aber
jemand hatte den Zeitungsartikel danebengeklebt, der alles bewies.
     
    Sie saßen auf der Bühne mit ihren
Perücken und angeklebten Bärten. Ihre Frauen hatten sie mit weißem Puder und
Rouge geschminkt. Es sollte heute würdevoll aussehen, »zur Ehre der Stadt«,
hatte der Bürgermeister gesagt. Aber es sah nicht würdevoll aus. Sie schwitzten
vor dem schwarzen Vorhang und hatten zu viel getrunken. Die Hemden klebten
ihnen am Körper, es roch nach Schweiß und Alkohol, leere Gläser standen zwischen
ihren Füßen. Sie spielten trotzdem. Und wenn sie falsch spielten, machte das
nichts, weil das Publikum auch zu viel getrunken hatte. Zwischen den Stücken
gab es Applaus und frisches Bier. Wenn sie Pause machten, legte ein Radiomoderator
Platten auf. Die Holzbretter vor der Bühne staubten, weil die Menschen trotz
der Hitze tanzten. Die Musiker gingen dann hinter den Vorhang, um zu trinken.
     
    Das Mädchen war siebzehn und musste
sich noch zu Hause abmelden, wenn sie bei ihrem Freund übernachten wollte. In
einem Jahr Abitur, dann Medizin in Berlin oder München, sie freute sich darauf.
Sie war hübsch, ein offenes Gesicht mit blauen Augen, man sah sie gerne an, und
sie lachte, während sie kellnerte. Das Trinkgeld war gut, in den großen Ferien
wollte sie mit ihrem Freund durch Europa fahren.
     
    Es war so heiß, dass sie nur ein
weißes T-Shirt zur Jeans trug und eine Sonnenbrille und ein grünes Band, das
ihre Haare zurückhielt. Einer der Musiker kam vor den Vorhang, er winkte ihr zu
und zeigte auf das Glas in seiner Hand. Sie ging über die Tanzfläche und stieg
die vier Stufen zur Bühne hoch, sie balancierte das Tablett, das eigentlich zu
schwer für ihre schmalen Hände war. Sie fand, dass der Mann lustig aussah mit
seiner Perücke und seinen weißen Wangen. Dass er gelächelt hatte, daran
erinnerte sie sich, dass er gelächelt hatte und dass seine Zähne gelb schienen,
weil sein Gesicht weiß war. Er schob den Vorhang zur Seite und ließ sie zu den
anderen Männern, die auf zwei Bierbänken saßen und Durst hatten. Für einen
Moment leuchtete ihr weißes T-Shirt eigenartig hell in der Sonne, ihr Freund
hatte es immer gemocht, wenn sie es trug. Dann glitt sie aus. Sie fiel nach
hinten, es tat nicht weh, aber das Bier ergoss sich über sie. Das T-Shirt wurde
durchsichtig, sie trug keinen BH. Weil es ihr peinlich war, lachte sie, und
dann sah sie die Männern an, die plötzlich stumm wurden und sie anstarrten. Der
Erste streckte die Hand nach ihr aus, und alles begann. Der Vorhang war wieder
geschlossen, die Lautsprecher brüllten einen Michael-Jackson-Song, und der
Rhythmus auf der Tanzfläche wurde zum Rhythmus der Männer, und später würde
niemand etwas erklären können.
     
    Die Polizei kam zu spät. Sie
glaubten dem Mann nicht, der aus der Telefonzelle angerufen hatte. Er hatte
gesagt, er sei von der Kapelle, seinen Namen hatte er nicht genannt. Der
Polizist, der den Anruf entgegenommen hatte, sagte es seinen Kollegen, aber
alle hielten es für einen Witz. Nur der Jüngste meinte, er sehe einmal nach,
und ging über die Straße zum Festplatz.
     
    Unter der Bühne war es dunkel und
feucht. Sie lag
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher