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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
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bekam den Flug und
fünfhundert Euro bezahlt. Die Polizei bekam einen Tipp, er wurde in Rio de
Janeiro im Taxi auf dem Weg zum Flughafen verhaftet. Im Koffer waren zwölf
Kilo unverschnittenes Kokain. Er saß dort im Gefängnis und wartete auf sein Verfahren.
     
    Hier endete die Akte. Nachdem ich alles gelesen hatte, rief ich Waller an.
Er fragte mich, ob ich die Verteidigung seines Halbbruders in Brasilien
organisieren könne. Er wolle keinen Kontakt zu ihm, aber er glaube, er müsse
das tun. Ich sollte hinfliegen, Anwälte besorgen, mit der Botschaft sprechen,
mich um alles kümmern. Ich sagte zu.
    Das Gefängnis in Rio de Janeiro hatte keine Zellen, sondern Gitterkäfige
mit schmalen Pritschen. Die Männer saßen dort mit angezogenen Füßen, der Boden
war nass. Es liefen Kakerlaken über die Wände. Meinering war völlig
verwahrlost. Ich sagte ihm, ein Mann, der anonym bleiben wolle, habe seine
Verteidigung bezahlt.
    Ich engagierte einen vernünftigen Strafverteidiger. Meinering wurde zu
zwei Jahren verurteilt. Danach wurde er für das deutsche Verfahren
ausgeliefert. Weil ein Jahr Haft in Brasilien wegen der katastrophalen Zustände
mit drei Jahren Haft hier angerechnet wird, wurde sein Verfahren in Deutschland
eingestellt. Er wurde entlassen.
     
    Drei Wochen später begann er in einer Kneipe Streit mit einem Russen. Es
ging um eine halbe Flasche Wermut. Beide waren betrunken, der Wirt warf sie
raus. Vor der Kneipe war eine Baustelle. Meinering bekam eine Baulampe zu
fassen und schlug sie dem anderen auf den Kopf. Der Russe brach zusammen.
Meinering wollte nach Hause. Er verlor die Orientierung, ging immer weiter am
Bauzaun entlang, bis er die Baustelle umrundet hatte. Nach etwa zwanzig Minuten
stand er wieder vor der Kneipe. Der Russe war inzwischen ein Stück weit gekrochen,
er blutete und brauchte Hilfe. Die Baulampe lag noch auf dem Boden. Meinering
nahm sie und schlug so lange zu, bis der Russe tot war. Er wurde noch am Tatort
festgenommen.
     
    Als ich das nächste Mal in München war, fuhr ich raus zu Waller.
    »Was wollen Sie jetzt machen?«, fragte ich.
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich will nichts mehr für ihn tun.«
    Es war ein strahlend schöner Tag. Das gelbe Haus mit den grünen
Fensterläden leuchtete in der Sonne. Wir saßen unten am Bootshaus. Waller trug
beige Shorts, seine Füße steckten in weißen Baumwollschuhen.
    »Warten Sie kurz, ich hole was.« Er ging zum Haus hoch. Auf der Terrasse
oben lag eine junge Frau. Der See war fast glatt.
    Waller kam zurück und gab mir ein Foto.
    »Das ist mein Vater«, sagte er.
    Es war ein Polaroid aus den Siebzigern. Die Farben waren irgendwann
verblasst, es hatte jetzt einen orange-braunen Ton. Der Mann auf dem Bild sah
aus wie Waller selbst.
    »Er war viermal im Gefängnis«, sagte er. »Drei Schlägereien, die er
angefangen hatte, einmal wegen Diebstahls: Er hatte Geld aus der Kasse geklaut.«
    Ich gab ihm das Foto zurück. Waller steckte es ein.
    »Sein Vater wurde von den Nazis 1944 zum Tode verurteilt. Er hatte eine Frau vergewaltigt«,
sagte er.
    Er setzte sich auf einen der Stühle und sah auch auf den See. Zwei Jollen
lieferten sich ein Rennen. Die blaue schien zu gewinnen. Dann drehte die rote
ab und gab auf. Waller stand auf und ging zum Grill.
    »Wir können bald essen. Sie bleiben doch?«
    »Ja«, sagte ich, »gerne.«
    Er stocherte mit einer Gabel in der Glut.
    »Nach uns besser nichts mehr«, sagte er plötzlich. Es war alles, was er
sagte.
    Seine Freundin kam zu uns runter, und wir sprachen über andere Sachen. Nach
dem Essen brachte er mich zu meinem Wagen. Ein einsamer Mann mit einem dünnen Mund.
     
    Ein paar Jahre später stand in der Zeitung, Waller sei tot, er sei in
einem Sturm vom Boot gerutscht und ertrunken. Sein Vermögen hatte er dem
Kloster in Japan vermacht, sein Haus der bayerischen Gemeinde am See. Ich hatte
ihn gemocht.
     
    Geheimnisse
     
    Der Mann kam zwei Wochen lang jeden Morgen in die Kanzlei. Er saß immer auf
dem gleichen Platz im großen Besprechungszimmer. Meistens hielt er sich das
linke Auge zu. Er hieß Fabian Kalkmann. Und er war verrückt.
     
    Schon bei unserem ersten Gespräch sagte er, der Geheimdienst würde ihn
verfolgen. CIA und BND. Er kenne das Geheimnis, das sie wollten. Das sei nun
mal so.
    »Sie jagen mich, verstehen Sie?«
    »Noch nicht ganz«, sagte ich.
    »Waren Sie mal im Stadion beim Fußball?«
    »Nein.«
    »Sie müssen hingehen. Sie rufen alle meinen Namen, die ganze Zeit rufen sie
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