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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
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Vorsitzende sagte, das Kind habe gelebt,
es sei ertrunken, seine Lunge sei entwickelt gewesen, dort seien Kolibakterien
gefunden worden. Er sagte, er glaube Larissa. Die Vergewaltigung habe sie
traumatisiert, sie habe das Kind nicht gewollt. Sie habe alles verdrängt, so
stark und vollkommen, dass sie tatsächlich nichts von ihrer Schwangerschaft
gewusst habe. Als Larissa auf der Toilette das Kind geboren habe, sei sie davon
überrascht worden. Sie sei deshalb in einen Zustand geraten, in dem sie Recht
von Unrecht nicht mehr unterscheiden konnte. Der Tod des Neugeborenen sei nicht
ihre Schuld.
     
    Lackner wurde in einem anderen Prozess zu sechseinhalb Jahren verurteilt.
     
    Larissa fuhr mit der Straßenbahn nach Hause. Sie hatte nur die gelbe
Plastiktasche dabei, die die Polizistin für sie gepackt hatte. Ihre Mutter
fragte sie, wie es denn so war bei Gericht. Larissa zog ein halbes Jahr später
aus.
     
    Nach unserem Telefonat schickte sie mir ein Foto ihrer Kinder. Sie legte
einen Brief dazu, runde Schönschrift auf blauem Papier, sie musste sehr langsam
geschrieben haben: »Alles ist gut mit meinem Mann und meinen Mädchen, ich bin
glücklich. Aber ich träume oft von dem Baby, das alleine im Keller lag. Es ist
ein Junge gewesen. Ich vermisse ihn.«
     
    Justiz
     
    Das Strafgericht liegt in Berlin-Moabit, der Stadtteil ist grau, kein
Mensch weiß, woher der Name kommt, ein wenig klingt das slawische Wort für Moor
mit. Es ist das größte Kriminalgericht Europas. Das Gebäude hat zwölf Höfe und
siebzehn Treppenhäuser. Hier arbeiten 1500 Menschen, darunter 270 Richter und 350 Staatsanwälte. Etwa 300 Hauptverhandlungen finden
jeden Tag statt, 1300 Untersuchungshäftlinge
aus 80 Nationen
sitzen hier ein, und es kommen täglich über tausend Besucher, Zeugen und
Prozessbeteiligte. Jahr für Jahr werden etwa 60 000 Strafverfahren bearbeitet.
Das ist die Statistik.
    Die Beamtin, die Turan brachte, sagte leise, er sei »ein armes Schwein«. Er
kam auf zwei Krücken in die Besprechungszelle, das rechte Bein zog er nach. Er
sah aus wie die Bettler in den Fußgängerpassagen. Sein linker Fuß war nach
innen verdreht. Er war 41 Jahre alt, ein schmales Männchen, nur Haut und
Knochen, das Gesicht eingefallen, kaum noch Zähne, unrasiert, verwahrlost. Um
mir die Hand zu geben, musste er eine Krücke an seinen Bauch lehnen, er stand
unsicher. Turan setzte sich und versuchte seine Geschichte zu erzählen. Er
verbüßte eine Strafe, der Strafbefehl war längst rechtskräftig: Mit seinem
Pitbullterrier habe er einen Mann angegriffen. Er habe ihn »brutal
zusammengeschlagen und -getreten«. Turan sagte, er sei unschuldig. Er brauchte
Zeit für seine Antworten, er sprach lange. Ich verstand nicht alles, was er
sagte, aber er musste auch nicht viel sagen: Er konnte kaum laufen, jeder Hund
hätte ihn umgerissen. Als ich gehen wollte, hielt er mich plötzlich am Arm
fest, seine Krücke fiel zu Boden. Er sagte, er sei kein schlechter Mensch.
     
    Ein paar Tage später kam die Akte von der Staatsanwaltschaft. Sie war
dünn, kaum 50 Seiten:
Horst Kowski, 42, ging
in Neukölln spazieren. Neukölln ist ein Stadtteil Berlins, dort engagieren
Schulen privaten Wachschutz, Grundschulen haben bis zu 80 Prozent Ausländeranteil, jeder
Zweite lebt vom Staat. Horst Kowski hatte seinen Dackel dabei. Der Dackel
begann Streit mit einem Pitbullterrier. Der Besitzer des Pitbulls wurde
wütend, der Streit eskalierte, der Mann schlug Kowski zusammen.
     
    Als Kowski zu Hause ankam, blutete er aus dem Mund. Seine Nase war
gebrochen, sein Hemd zerrissen. Seine Frau verband ihn. Sie sagte, sie kenne
»den mit dem Pitbull«, er heiße Tarun. Er sei Stammkunde im Sonnenstudio, in
dem sie arbeitete. Sie sah im Computer des Studios nach, fand Taruns Rabattkarte
und seine Adresse: Kolbe-Ring 52. Das Ehepaar ging zur Polizei, Kowski legte den
Computerausdruck vor. Tarun war im Melderegister der Stadt nicht zu finden, den
Beamten wunderte das nicht, in Neukölln wird die Meldepflicht nicht immer
eingehalten.
     
    Am nächsten Tag fand ein Streifenbeamter am Kolbe-Ring 52 unter den 184 Klingelschildchen keinen
Tarun. Allerdings stand auf einem Schild »Turan«. Der Polizist fragte beim
Landeseinwohneramt nach, tatsächlich war ein Harkan Turan im Kolbe-Ring 52 gemeldet. Der Beamte glaubte,
es sei eine Buchstabenverwechslung, es müsse richtig »Turan« und nicht »Tarun«
heißen. Er klingelte. Als niemand öffnete, hinterließ der Beamte im
Briefkasten eine
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