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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
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hatte es irgendwie
geschafft, seinem Sohn das Gymnasium zu ermöglichen, obwohl ihm die Frau weggelaufen
war. Sie hatte das Kind zurückgelassen. Sechzehn Tage nach Wallers Abitur starb
er. Er rutschte aus und fiel in das frische Betonbett eines Neubaus. Er hatte
eine Bierflasche in der Hand. Sie konnten die Maschine nicht schnell genug
stoppen, er ertrank im Beton.
    Außer Waller gingen noch vier Arbeitskollegen des Vaters auf die
Beerdigung. Waller trug den einzigen Anzug seines Vaters, er passte perfekt. Er
hatte das viereckige Gesicht seines Vaters und dessen dünne Lippen. Nur seine
Augen waren anders. Und alles andere.
     
    Die deutsche Studienstiftung bot Waller ein Stipendium an. Er lehnte ab.
Er kaufte ein Ticket nach Japan, packte einen Koffer und flog nach Kyoto. Er
ging für zwölf Monate in ein Kloster. In diesem Jahr lernte er Japanisch.
Danach bewarb er sich bei einem deutschen Maschinenbauer in Tokio. Fünf Jahre später
war er Niederlassungsleiter. Er wohnte in einer billigen Pension. Alles Geld,
was er verdiente, ging auf ein Anlagekonto. Ein japanischer Autobauer warb ihn
ab. Nach sechs Jahren hatte er den höchsten Posten erreicht, den ein Ausländer
dort jemals hatte. Auf seinem Konto lagen inzwischen rund zwei Millionen Euro,
er wohnte immer noch in der Pension, er hatte praktisch nichts ausgegeben. Er
war jetzt 31 Jahre
alt. Er kündigte und zog nach London. Acht Jahre später hatte er an der Börse
fast dreißig Millionen verdient. Auch in London hatte er nur ein winziges
Zimmer. Mit 39 kaufte
er ein Herrenhaus an einem bayerischen See. Sein Geld legte er nun in
Staatsanleihen an. Er arbeitete nicht mehr.
    Vor ein paar Jahren mietete ich im Sommer für drei Wochen ein kleines Haus
an diesem See. Das Herrenhaus konnte man durch die Bäume sehen, zwischen den
Grundstücken war kein Zaun. Ich traf Waller das erste Mal auf dem Bootssteg vor
meinem Haus. Er stellte sich vor und fragte, ob er sich setzen dürfe. Wir waren
etwa gleich alt. Es war ein heißer Tag, wir hatten die Füße im Wasser und
sahen den Jollen und bunten Windsurfern zu. Es störte uns nicht, dass wir kaum
sprachen. Nach zwei Stunden ging er wieder nach Hause.
     
    Im Sommer darauf verabredeten wir uns in der Lobby des Frankfurter Hofs.
Ich kam etwas zu spät, erwartete schon. Wir tranken Kaffee, ich war müde von
dem Prozesstag. Er sagte, ich müsse bald wiederkommen, jeden Morgen würden Reiher
über den See und das Haus fliegen, ein riesiger Schwarm. Am Schluss fragte er,
ob er mir eine Akte schicken könne.
     
    Die Akte kam vier Tage später. Es war die Geschichte seiner Familie, ein
Detektivbüro hatte sie zusammengestellt:
    Wallers Mutter hatte ein Jahr nach der Trennung nochmals geheiratet, sie
hatte einen weiteren Sohn bekommen, Wallers Halbbruder Fritz Meinering. Als
Fritz Meinering zwei war, verließ der neue Mann die Familie. Die Mutter starb
an einer Alkoholvergiftung, als er eingeschult wurde. Meinering kam in ein
Kinderheim. Er wollte Schreiner werden. Das Heim besorgte ihm eine Lehrstelle.
Er begann mit Freunden zu trinken. Nach kurzer Zeit trank er so viel, dass er
es morgens nicht mehr in den Betrieb schaffte. Die Lehrstelle wurde
gekündigt. Er verließ das Heim.
    Danach begannen die Straftaten: Diebstähle, Körperverletzungen,
Straßenverkehrsdelikte. Er kam zweimal kurz ins Gefängnis. Auf dem Oktoberfest
in München trank er bis zu einer Blutalkoholkonzentration von3 ,2 Promille.
Er pöbelte zwei Frauen an und wurde wegen Vollrausches verurteilt. Er rutschte
ab, verlor seine Wohnung, schlief in Obdachlosenheimen.
    Ein Jahr nach dem Vorfall auf dem Oktoberfest überfiel er einen
Lebensmittelladen. Er sagte dem Richter nur, er habe das Geld gebraucht. Er war
noch von der Nacht davor so betrunken gewesen, dass ihn die Verkäuferin mit
einer Kehrichtschaufel niederschlagen konnte. Er bekam zwei Jahre und sechs
Monate Gefängnis. Weil er eine Therapie zum Alkoholentzug machte, wurde er
früher entlassen.
    Ein paar Monate schaffte er es, nüchtern zu bleiben. Er fand eine Freundin.
Sie zogen zusammen, die Frau arbeitete als Verkäuferin. Er war eifersüchtig.
Als sie zu spät nach Hause kam, schlug er mit einem Topfdeckel auf ihr linkes
Ohr, das Trommelfell platzte. Die Richter gaben ihm ein weiteres Jahr.
    Im Gefängnis lernte Fritz Meinering einen Drogenhändler kennen. Sie wurden
im Abstand von einer Woche entlassen. Der Mann überredete Meinering, Kokain aus
Brasilien nach Deutschland zu bringen. Meinering
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