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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
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Land
war es anders. Man saß enger zusammen, man musste miteinander auskommen. Der
Vorsitzende scherte sich nicht darum, was die Staatsanwaltschaft dachte,
Kaulbach blieb ruhig sitzen.
    »Ich werde sie verurteilen müssen, das Gesetz zwingt mich dazu«, sagte er.
Er sah mich an. »Es sei denn, Ihnen fällt noch etwas ein. Ich lasse Ihnen jede
Möglichkeit.«
     
    Die Verhandlung dauerte tatsächlich nur zwei Tage. Es gab keine Zeugen.
Alexandra erzählte ihre Geschichte. Der Gerichtsmediziner berichtete über die Obduktion
des Opfers und länger von den Misshandlungen Alexandras. Die Beweisaufnahme
wurde geschlossen. Der Staatsanwalt plädierte auf Mord, er sprach emotionslos,
es gab nichts an seinem Vortrag auszusetzen. Er sagte, dass die Angeklagte alle
Voraussetzungen für einen minder schweren Fall mitbringe. Aber es gebe bei Mord
nun einmal keine gesetzlichen Minderungsmöglichkeiten, der Gesetzgeber habe es
so vorgesehen. Deshalb sei die einzige angemessene Sanktion eine
lebenslängliche Freiheitsstrafe. Mein Plädoyer sollte am nächsten Tag folgen.
Die Verhandlung wurde bis dahin unterbrochen.
    Bevor wir den Saal verließen, rief der Vorsitzende den Staatsanwalt und
mich zur Richterbank. Er hatte die Robe ausgezogen. Er trug ein grünes Jackett,
sein Hemd war zerknittert und voller Flecken.
    »Sie haben unrecht, Kaulbach«, sagte er zum Staatsanwalt. »Es gibt
natürlich keinen minder schweren Fall beim Mord, aber es gibt andere
Möglichkeiten.« Er überreichte jedem von uns ein paar Kopien. »Studieren Sie
die Entscheidung bis morgen. Ich möchte etwas Vernünftiges von Ihnen hören.«
Das war an mich gerichtet.
     
    Ich kannte die Entscheidung. Der große Senat des Bundesgerichtshofes hatte
gesagt, die Strafe für Mord sei nicht absolut. Auch die lebenslange
Freiheitsstrafe solle in Ausnahmefällen gemildert werden können. Ich plädierte
so, mehr fiel mir nicht ein.
     
    Das Gericht sprach Alexandra frei. Der Vorsitzende sagte, sie habe in
Notwehr gehandelt. Es ist eine schwierige Vorschrift. Um sich wehren zu dürfen,
muss ein Angriff gerade stattfinden oder unmittelbar bevorstehen. Wer sich
wehrt, kann nicht bestraft werden. Das Problem war nur: Ein Schlafender kann
nicht angreifen. Und noch nie hatte ein Gericht angenommen, dass ein Angriff
kurz bevorstehe, wenn der Angreifer noch schläft. Der Vorsitzende sagte, es sei
eine Einzelfallentscheidung, eine Ausnahme, sie gelte nur für diesen einen
Fall. Alexandra habe nicht abwarten müssen, bis er aufwacht. Sie habe ihre
Tochter schützen wollen, und sie habe das tun dürfen. Sie selbst habe um ihr
Leben fürchten müssen. Das Gericht hob den Haftbefehl auf und entließ sie aus
der Untersuchungshaft. Später überredete der Vorsitzende den Staatsanwalt,
keine Revision einzulegen.
     
    Nach der Urteilsverkündung ging ich in das Cafe gegenüber. Man konnte
draußen unter einem riesigen Kastanienbaum sitzen. Ich dachte über den alten
Vorsitzenden nach, über das hastige Verfahren und mein dummes Plädoyer: Ich
hatte um eine milde Verurteilung gebeten, das Gericht hatte sie
freigesprochen. Plötzlich fiel mir auf, dass wir keinen Sachverständigen für
Fingerabdrücke gehört hatten. Ich sah in den Akten auf meinem Laptop nach: Es
waren keine Spuren auf der Statue zu finden gewesen, der Täter musste
Handschuhe getragen haben. Die Statue wog 41 kg, Alexandra kaum mehr. Das
Bett war über 50 cm
hoch. Ich las ihre Aussage noch einmal, sie hatte gesagt, sie habe nach der
Tat im Kinderzimmer gesessen, bis es hell geworden sei. Danach habe sie die
Polizei angerufen. Sie habe nicht geduscht und sich nicht umgezogen. Etwa
einhundert Seiten weiter in der Akte waren die Fotos von ihrer Kleidung: Sie
hatte eine weiße Bluse getragen - nirgendwo waren Spuren von Blut. Der
Vorsitzende war erfahren, er konnte es nicht übersehen haben. Ich klappte den
Bildschirm zu. Es war Spätsommer, die letzten Tage, der Wind war noch warm
hier.
     
    Ich sah sie aus dem Gericht kommen. Felix wartete auf sie im Taxi. Sie
setzte sich zu ihm auf die Rückbank. Er nahm ihre Hand. Sie würde mit ihm zu
ihren Eltern fahren, Saskia in die Arme nehmen, und alles wäre vorbei. Sie
würden miteinander behutsam sein müssen. Erst wenn sie die Wärme in ihrem
Bauch spüren würde, würde sie den Druck der Hand erwidern, die ihren Mann
getötet hatte.
     
    Familie
     
    Waller machte das beste Abitur in Hannover. Sein Vater war Eisenflechter
gewesen, ein kleiner Mann mit hängenden Schultern. Er
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