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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
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Oberlippe
bebte ein wenig, wenn sie über Kunst sprach, und dann konnte man noch schwach
ihren französischen Akzent hören.
    Sie hatte die Kinder, wie immer zu
Beginn des Schuljahres, eine Szene aus ihren Ferien malen lassen. Sie blätterte
am Nachmittag in den Schülerarbeiten, sie wollte sehen, wie weit sie waren.
Sie nahm die Bilder einzeln aus der Mappe, sie rauchte, was sie nur zu Hause
tat. Manchmal machte sie sich Notizen. Dann hielt sie Henrys Blatt in den
Händen, eine Zeichnung, nur ein paar Bleistiftstriche: Seine Mutter holt ihn
vom Bahnhof ab. Ihr war der Junge in der Klasse nicht einmal aufgefallen,
aber jetzt begann ihre Hand zu zittern. Sie verstand seine Zeichnung, alles lag
offen vor ihr. Sie sah die Kämpfe, die Wunden und die Angst, und plötzlich sah
sie den Jungen selbst.
    Abends schrieb sie in ihr Tagebuch
unter diesen Tag nur zwei Sätze: »Henry P. ist die größte Begabung, die ich jemals gesehen habe. Er ist das
Geschenk meines Lebens.«
     
    Kurz nach den Weihnachtsferien
erwischten sie ihn.
     
    An das Kloster war in den
Siebzigerjahren ein Schwimmbad angebaut worden. Es war schwül dort, es roch
nach Chlor und Plastik, die Schüler zogen sich in einem Vorraum um. Henry hatte
sich am Beckenrand die Hand angeschlagen und durfte vor den anderen gehen. Ein
paar Minuten später holte ein anderer Junge seine Uhr, er wollte stoppen, wie
lange man unter Wasser bleiben konnte. Als er in den Vorraum kam, sah er, wie
Henry Geld aus den Hosen der anderen nahm, wie er es zählte und einsteckte. Er
sah ihm minutenlang zu, das Wasser tropfte auf den gekachelten Boden.
Irgendwann bemerkte Henry ihn und hörte ihn sagen: »Du Schwein.« Henry sah die
Wasserlache unter dem Jungen, seine grün-weiße Schwimmhose, die Haare, die ihm
nass ins Gesicht fielen. Plötzlich verlangsamte sich die Welt, er sah einen
einzelnen Tropfen in Zeitlupe fallen, seine Oberfläche war vollkommen, das
Neonlicht der Decke brach sich in ihm. Als er auf dem Boden zerklatschte, tat Henry
etwas, was er nicht hätte tun dürfen und was er auch später niemandem erklären
konnte: Er kniete. Der andere Junge grinste von oben und sagte nochmals: »Du
Schwein, das wirst du büßen.« Dann ging er zurück in die Schwimmhalle.
     
    Der Junge gehörte zu einer kleinen
Gruppe im Internat, die sich heimlich Illuminati nannte. In den Sommerferien
hatte er ein Buch über untergegangene Orden, über die Templer und Illuminaten
gelesen. Er war sechzehn und suchte nach Erklärungen für die Welt. Er gab das
Buch den anderen, und nach einigen Monaten kannten sie alle Theorien. Sie waren
zu dritt, sie redeten über den heiligen Gral und über Weltverschwörungen, sie
trafen sich nachts, suchten nach Zeichen im Kloster, und schließlich fanden sie
die Symbole, weil sie sie finden wollten. Die Fensterbögen warfen mittags
Schatten, die wie Pentagramme aussahen, auf dem dunklen Gemälde des Abtes, der
das Kloster gegründet hatte, entdeckten sie eine Eule, das Symbol der
Illuminaten, und über der Turmuhr meinten sie eine Pyramide zu sehen. Sie
nahmen alles ernst, und weil sie mit niemanden darüber sprachen, gewannen die
Dinge eine Bedeutung, die ihnen nicht zustand. Sie bestellten sich über das
Internet Bücher, sie lasen in unzähligen Foren, und allmählich glaubten sie,
was sie sagten.
    Als sie beim Exorzismus angelangt
waren, beschlossen sie, ein Opfer zu suchen, einen Menschen, den sie von
seinen Sünden reinigen und zu ihrem Jünger machen konnten. Viel später, nachdem
alles passiert war, fand man in ihren Schränken und Bettkästen mehr als 400
Bücher über Inquisitionsprozesse, Satansriten, Geheimbünde und Selbstgeißler,
und ihre Computer waren voll mit Bildern von Hexenfoltern und sadistischer
Pornografie. Sie dachten, ein Mädchen wäre ideal, und sie sprachen darüber, was
sie mit ihr machen würden. Aber als im Schwimmbad die Sache mit Henry
passierte, war es entschieden.
     
    Die Lehrerin war vorsichtig mit
Henry. Sie ließ ihn zeichnen, was er wollte. Dann zeigte sie ihm Bilder, sie
erklärte ihm Anatomie, Perspektive und Komposition. Henry sog alles auf, nichts
fiel ihm schwer. Er wartete jede Woche auf die zwei Stunden Kunstunterricht.
Als er etwas weiter war, ging er mit seinem Zeichenblock nach draußen. Er
zeichnete, was er sah, und er sah mehr als andere. Die Lehrerin sprach nur mit
dem Internatsleiter über ihn, sie beschlossen, Henry im Schutz der Schule
weiter wachsen zu lassen, zu zerbrechlich schien er noch. Er begann
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