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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
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Zivilanwaltes der Schule angerufen. Er erzählte mir, was
passiert war, ich solle die Interessen des Internats vertreten. Er wusste,
dass die Lehrerin ein besonderes Verhältnis zu Henry hatte, enger als mit
anderen Schülern, und obwohl er ihr immer vertraut hatte, hatte er jetzt
Angst, dass ihr Tod damit etwas zu tun haben könnte.
     
    Als ich fünf Tage nach den
Ereignissen im Internat eintraf, war das alte Schlachthaus noch immer mit
weiß-roten Flatterbändern abgesperrt. Die leitende Staatsanwältin sagte, die
Ermittlungsbehörden hätten keinen Anlass, die Lehrerin zu verdächtigen. Die
Kriminalbeamten hatten ihr Tagebuch gefunden. Ich nahm Akteneinsicht und las es
in meinem Hotelzimmer.
    Und es gab die Bilder. Die Polizei
hatte sie in Henrys Schrank gefunden. Er hatte alles festgehalten, schnelle
Tuschzeichnungen auf Hunder ten von Blättern, jede Demütigung war zu sehen, jede Demütigung und alle
Lust. Die Bilder würden der Hauptbeweis im Prozess werden, niemand würde
etwas leugnen können. Auf keiner Zeichnung war die Lehrerin zu sehen, ihr Tod
war tatsächlich ein Unglücksfall. Henry konnte ich nicht sprechen, er war nach
Hause gebracht worden, aber es gab fast 50 Seiten Vernehmungsprotokolle, und
mit seinem Freund redete ich viele Stunden.
    Am Ende der Woche konnte ich den
Internatsleiter beruhigen. Henrys Eltern würden die Schule nicht verklagen,
sie wollten nicht, dass der Fall ihres Sohnes öffentlich würde. Die Staatsanwaltschaft
hatte nicht vor, die Leitung des Internats vor Gericht zu stellen, das
Strafverfahren gegen die Jungen würde nicht öffentlich sein: Sie waren erst
siebzehn, es würde nur um ihre Schuld gehen. Mein kurzes Mandat war damit
beendet.
    Ein befreundeter Anwalt, der einen
der jungen Männer verteidigte, sagte mir später, alle hätten gestanden, sie
seien zu einer Jugendstrafe von jeweils drei Jahren verurteilt worden. Der Tod
der Lehrerin wurde ihnen nicht vorgeworfen.
    Als ich einige Jahre nach den Ereignissen
in der Gegend war, rief ich den Internatsleiter an, er lud mich zu einem Kaffee
in das Kloster ein. Das alte Schlachthaus war abgerissen worden, dort war jetzt
ein Parkplatz. Henry war nicht mehr ins Internat zurückgekommen. Er war lange
krank gewesen und arbeitet jetzt in der Schraubenfabrik, in der er schon sein
Schülerpraktikum gemacht hatte. Henry hat nie wieder gezeichnet.
     
    Am Abend fuhr ich über die gleiche
Allee zurück, auf der Henry vor vielen Jahren von seinen Eltern ins Internat
gebracht worden war. Ich sah den Hund zu spät. Als ich bremste, stellte der
Wagen sich auf dem Schotterweg quer. Der Hund war riesig und schwarz, er
überquerte die Allee und ließ sich Zeit, er sah mich nicht einmal an. Im Mittelalter
hatten solche Hunde die Alraunen aus dem Boden ziehen müssen, man hatte
geglaubt, die Pflanze würde schreien, wenn sie entwurzelt wird, und ihr Schrei
würde die Menschen töten. Den Hunden war das wohl egal. Ich wartete, bis er
zwischen den Bäumen verschwunden war.
     
    Kinder
     
    Bevor sie ihn abholten, war es bei
Holbrecht immer gut gelaufen. Er hatte Miriam auf einem Abendessen bei
Freunden kennengelernt. Sie hatte ein schwarzes Kleid getragen und einen Seidenschal
mit bunten Paradiesvögeln. Sie war Lehrerin in der Grundschule, er Vertreter
für Büromöbel. Sie hatten sich verliebt, und als diese Zeit vorbei war, hatten
sie sich immer noch gut verstanden. Auf den Familienfeiern sagte jeder, sie
seien ein hübsches Paar, und die meisten meinten es ernst.
     
    Ein Jahr nach der Hochzeit hatten
sie eine Doppelhaushälfte in einer der ordentlicheren Vorstädte Berlins
gekauft, und fünf Jahre später war sie fast abbezahlt. »Vor der Zeit«, hatte
der Filialleiter der Volksbank gesagt. Er stand auf, wenn er Miriam oder ihn
am Schalter sah. Holbrecht gefiel das. »Es gibt nichts auszusetzen«, dachte
er.
    Holbrecht wollte Kinder. »Nächstes
Jahr«, hatte Miriam gesagt und: »Lass uns das Leben noch ein wenig genießen.«
Sie war 29, er neun Jahre älter. Sie würden im Winter auf die Malediven fahren,
und immer wenn sie davon sprachen, sah Miriam ihn an und lächelte.
    Die Kunden schätzten seine gerade
Art, mit den Bonuszahlungen kam er auf gut Neunzigtausend im Jahr. Wenn er im
Auto zurück von den Terminen kam, hörte er Jazz, und nichts fehlte ihm.
     
    Sie kamen um sieben Uhr morgens. An
diesem Tag hätte er nach Hannover fahren müssen, ein neuer Kunde,
Kompletteinrichtung einer Firma, ein guter Auftrag. Sie legten ihm
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