Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
Vom Netzwerk:
nie wieder tun. An den Rest
der Schulstunde erinnerte er sich nicht mehr, aber später glaubte er, sein
Leben habe an jenem Tag eine Unwucht bekommen, die er nicht wieder ausgleichen
konnte.
     
    Henrys Eltern waren ehrgeizig, sein
Vater ein Mann, den nie jemand in der Kleinstadt ohne Krawatte und geputzte
Schuhe sah. Er war mit allen Anstrengungen seiner Herkunft stellvertretender
Direktor der Elektrizitätswerke und Mitglied im Stadtrat geworden, seine Frau
war die Tochter des größten Bauern der Gegend. Und weil der Vater selbst nur
die mittlere Reife hatte, wollte er für seinen Sohn mehr. Er hatte eine falsche
Vorstellung von privaten Schulen, den staatlichen misstraute er, und deshalb
beschlossen die Eltern, Henry in ein Internat nach Süddeutschland zu bringen.
     
    Eine Kastanienallee führte zu dem
ehemaligen Kloster aus dem sechzehnten Jahrhundert. Der Trägerverein des
Internats hatte das Haus vor 60 Jahren gekauft, es hatte einen guten Ruf; Industrielle,
hohe Beamte, Ärzte und Rechtsanwälte schickten ihre Kinder auf diese Schule.
Der Leiter des Internats war ein dicker Mann mit Halstuch und grünem Jackett,
er begrüßte die Familie an der Pforte. Die Eltern redeten mit dem Fremden,
Henry ging hinter ihnen, er sah die Lederflecken an den Ellenbogen des Mannes
und seine rötlichen Nackenhaare. Die Stimme des Vaters war leiser als sonst.
Andere Kinder kamen ihnen entgegen, einer nickte Henry zu, er wollte es nicht
erwidern und sah zur Wand. Der Fremde zeigte ihnen Henrys Zimmer für das
nächste Jahr, er teilte es mit acht anderen Kindern. Die Betten standen in
Holzkojen, vor jeder ein Vorhang aus Leinen. Der Mann sagte zu Henry, das sei
jetzt sein »Bereich«, er dürfe Poster mit Tesafilm aufhängen, er sagte das so,
als wäre er freundlich. Dann klopfte er ihm auf die Schulter. Henry verstand
ihn nicht, die Hände des Fremden waren fleischig und weich, endlich ging er.
    Die Mutter räumte seinen Schrank
ein, alles war fremd, die Bettwäsche hatte nichts mit zu Hause zu tun, die
Geräusche einen anderen Klang. Henry hoffte noch immer, dass alles ein Irrtum
sei.
    Sein Vater langweilte sich, er saß
neben Henry auf dem Bett, beide sahen zu, wie die Mutter die drei Koffer
auspackte. Sie sprach ununterbrochen, sie sagte, sie wäre auch gerne auf ein
Internat gegangen, die Ferienlager in ihrer Jugend habe sie geliebt. Henry
wurde von dem Singsang ihrer Stimme müde. Er lehnte sich an das Kopfteil des
Bettes und schloss die Augen. Als er geweckt wurde, hatte nichts sich
verändert.
    Ein Mitschüler kam, er sagte, er
habe den Auftrag, die Eltern »herumzuführen«. Sie sahen zwei Klassenzimmer,
den Speisesaal, die Teeküche, alles stammte aus den Siebzigerjahren, die Möbel
hatten abgerundete Kanten, die Lampen waren orange, alles war bequem, nichts
schien in ein Kloster zu passen. Die Mutter war von allem begeistert, und
Henry wusste, wie dumm der Schüler sie fand. Am Ende gab der Vater dem Schüler
zwei Euro. Es war zu wenig, die Mutter rief ihn zurück und steckte ihm nochmals
Geld zu. Der Junge verbeugte sich, er hielt die Münzen in der Hand, er sah
Henry an, und Henry dachte, dass er schon jetzt verloren habe.
    Irgendwann sagte der Vater, es sei
schon spät, sie hätten noch die lange Rückfahrt vor sich. Als sie die Allee
herunterfuhren, sah Henry, wie seine Mutter sich im Wagen noch einmal zu ihm umdrehte
und winkte. Er sah ihr Gesicht durch die Scheibe, er sah, wie sie mit seinem
Vater sprach, ihr roter Mund bewegte sich lautlos, er würde sich immer bewegen,
und plötzlich begriff er, dass er es nicht mehr für ihn tat. Er behielt die
Hände in den Taschen. Das Auto wurde immer kleiner, bis er es nicht mehr von
den Schatten der Allee unterscheiden konnte.
    Er war jetzt zwölf Jahre alt, und er
wusste, dass alles zu früh und zu ernst für ihn war.
    Das Internat war eine eigene Welt,
enger und intensiver und ohne Kompromisse. Es gab die Sportler, die
Intellektuellen, die Aufschneider und die Sieger. Und es gab die, die nicht
beachtet wurden, die Unauffälligen. Niemand entschied selbst, wer er war, die
anderen richteten, und fast immer war das Urteil endgültig. Mädchen hätten dort
das Korrektiv sein können, aber sie wurden nicht aufgenommen, ihre Stimme
fehlte.
     
    Henry gehörte zu den Unauffälligen.
Er sagte die falschen Dinge, er trug die falschen Sachen, er war schlecht im
Sport, und selbst bei den Computerspielen versagte er. Niemand erwartete etwas
von ihm, er lief mit, es gab noch nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher