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von Schirach

von Schirach

Titel: von Schirach
Autoren: Schuld
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klingelte das
Telefon in meinem Zimmer. Ich konnte nur den Atem des anderen hören, er
sprach nicht. Er hatte sich nicht verwählt. Ich hörte ihm zu, bis er auflegte.
Es dauerte lange.
     
    Das Amtsgericht lag am gleichen
Platz wie das Hotel, ein klassizistisches Gebäude mit einer kleinen
Freitreppe, es feierte die Größe des Rechtsstaats. Die Stadt war berühmt für
ihre Weinkeltereien, Kaufleute und Winzer lebten hier, ein glücklicher Landstrich,
von allen Kriegen verschont. Alles strahlte hier vor Würde und Rechtschaffenheit.
Jemand hatte Geranien auf die Fensterbänke des Gerichts gestellt.
     
    Der Richter rief uns nacheinander in
sein Zimmer. Ich trug eine Robe, weil ich nicht wusste, dass man sie bei
solchen Terminen nicht trägt. Als die Haftprüfung begann, redete ich zu viel,
so wie man eben redet, wenn man jung ist und meint, alles sei besser, als zu
schweigen. Der Richter sah nur meinen Mandanten an, ich glaube nicht, dass er
mir zuhörte. Aber zwischen dem Richter und dem Mann stand etwas anderes, etwas
viel Älteres als unsere Prozessordnung, eine Anklage, die nichts mit den
geschriebenen Gesetzen zu tun hatte. Und als ich fertig war, fragte der Richter
noch einmal, ob der Mann schweigen wolle. Er fragte es leise und ohne Betonung,
während er seine Lesebrille zusammenklappte und wartete. Der Richter kannte die
Antwort, aber er stellte die Frage. Und wir alle in dem kühlen Verhandlungszimmer
wussten, dass das Verfahren hier enden würde und dass Schuld eine ganz andere
Sache war.
     
    Später warteten wir auf dem Flur auf
die Entscheidung des Ermittlungsrichters. Wir waren neun Verteidiger, mein
Bekannter und ich waren die Jüngsten. Wir beide hatten uns neue Anzüge gekauft
für dieses Verfahren. Wie alle Anwälte scherzten wir, die Situation sollte uns
nicht gefangen nehmen, und ich war jetzt ein Teil von allem. Am Ende des
Flures lehnte ein Wachtmeister an der Wand, er war dick und müde, und er verachtete
uns.
    Am Nachmittag hob der Richter die
Haftbefehle auf, er sagte, es sei kein Nachweis zu führen, die Beschuldigten
hätten geschwiegen. Er las den Beschluss vom Blatt ab, obwohl es nur zwei
Sätze waren. Danach war es still. Die Verteidigung war richtig gewesen, aber
jetzt wusste ich nicht, ob ich aufstehen sollte, bis die Protokollführerin mir
den Beschluss gab und wir das Zimmer verließen. Der Richter hatte nicht anders
entscheiden können. Im Flur roch es nach Linoleum und alten Akten.
     
    Die Männer wurden entlassen. Sie
gingen durch einen Hinterausgang, sie gingen zurück zu ihren Frauen und Kindern
und ihrem Leben. Sie bezahlten weiter ihre Steuern und ihre Kredite, sie
schickten ihre Kinder in die Schule, und keiner redete mehr über die Sache.
Nur die Kapelle wurde aufgelöst. Ein Prozess fand nie statt.
     
    Vor dem Amtsgericht stand der Vater
der jungen Frau, er stand in der Mitte der Treppe, als wir links und rechts an
ihm vorbeigingen, keiner berührte ihn. Er sah uns an, rot geweinte Augen, ein
gutes Gesicht. Am Rathaus gegenüber hing noch das Plakat zur Feier der Stadt.
Die älteren Anwälte sprachen mit den Journalisten, die Mikrofone glänzten wie
Fische in der Sonne, und hinter ihnen setzte sich der Vater auf die Stufen des
Gerichtsgebäudes und vergrub den Kopf zwischen den Armen.
     
    Nach der Haftprüfung gingen mein
Studienfreund und ich zum Bahnhof. Wir hätten über den Sieg der Verteidigung
sprechen können oder über den Rhein neben den Gleisen oder über irgendetwas.
Aber wir saßen auf der hölzernen Bank, von der die Farbe abblätterte, und keiner
wollte etwas sagen. Wir wussten, dass wir unsere Unschuld verloren hatten und
dass das keine Rolle spielte. Wir schwiegen auch noch im Zug in unseren neuen
Anzügen neben den kaum benutzten Aktentaschen, und während wir nach Hause fuhren,
dachten wir an das Mädchen und die ordentlichen Männer und sahen uns nicht an.
Wir waren erwachsen geworden, und als wir ausstiegen, wussten wir, dass die
Dinge nie wieder einfach sein würden.
     
    DNA
    Für M.R.
     
    Nina war siebzehn. Sie saß vor dem
Bahnhof Zoo, vor ihr ein Pappbecher mit ein paar Münzen. Es war kalt, der
Schnee blieb schon liegen. Sie hatte sich das nicht so vorgestellt, aber es war
besser als alles andere. Sie hatte ihre Mutter das letzte Mal vor zwei Monaten
angerufen, ihr Stiefvater war ans Telefon gegangen. Er hatte geweint, sie solle
zurückkommen, hatte er gesagt. Es war alles sofort wieder da gewesen, sein
Geruch nach Schweiß und altem Mann,
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