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Das Siegel der Tage

Das Siegel der Tage

Titel: Das Siegel der Tage
Autoren: Isabel Allende
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eine dieser Fügungen, die schon üblich sind bei allem, was dich betrifft, Tochter, führte er uns in ebenden Wald, durch den ich häufig gewandert war, wenn ich meinen Zorn und Kummer lindern wollte, als du krank lagst, in den Willie mich zum Picknick ausgeführt hatte, als wir uns gerade kennengelernt hatten, in dem Ernesto und du Hand in Hand spazierengingt, wenn ihr bei uns in Kalifornien zu Besuch wart. Dein Vater fuhr ein Stück in den Nationalpark hinein, stellte das Auto ab und winkte uns, ihm zu folgen. Er brachte uns geradewegs zu der Stelle, die auch ich gewählt hätte, denn hier war ich häufig gewesen, um für dich zu beten: einBachlauf, gesäumt von hohen Sequoien, deren Kronen die Kuppel einer grünen Kathedrale bilden. Ein dünner Nebel hing in der Luft und ließ alle Konturen der Wirklichkeit verschwimmen; kaum ein Sonnenstrahl drang durch die Baumwipfel, aber die Blätter im Unterholz schimmerten winterfeucht. Der Boden roch würzig nach Humus und Dill. Dort, wo der Bach eine Biegung machte und das Wasser sich an Felsen und umgestürzten Stämmen etwas staute, blieben wir stehen. Ernst, mit bleichen Wangen, doch ohne eine Träne, denn die hatte er alle schon geweint, hielt Ernesto die Keramikurne mit deiner Asche in den Händen. Ein klein wenig davon hatte ich in einem Porzellankästchen verwahrt, um es immer auf meinem Altar zu haben. Nico hielt deinen kleinen Neffen Alejandro im Arm, und deine Schwägerin Celia hatte Andrea, die noch ein Säugling war, in Wollschals gewickelt an der Brust. Ich hatte einen Strauß Rosen mitgebracht, die ich, eine nach der anderen, ins Wasser warf. Danach nahmen wir alle, auch Alejandro mit seinen drei Jahren, eine Handvoll Asche aus der Urne und streuten sie ins Wasser. Einige Flocken trieben kurz zwischen den Rosen, doch die meisten sanken wie weißer Sand auf den Grund.
    »Was ist das?« wollte Alejandro wissen.
    »Deine Tante Paula«, sagte meine Mutter schluchzend.
    »Sieht gar nicht so aus«, bemerkte er verwirrt.
    Ich will dir erzählen, was seit 1993 aus uns geworden ist, nachdem du fort warst, und werde mich auf die Familie beschränken, weil die dich interessiert. Zwei von Willies Söhnen müssen dabei unerwähnt bleiben: Lindsay, weil ich ihn kaum kenne, wir uns nur etwa ein dutzendmal gesehen haben und über erste Höflichkeitsfloskeln nie hinausgekommen sind, und Scott, der auf diesen Seiten nicht auftauchen möchte. Du hattest ihn sehr gern, diesen hageren, einzelgängerischen Jungen mit der dicken Brilleund den Wuschelhaaren. Heute ist er ein Mann von achtundzwanzig, sieht Willie ähnlich und nennt sich Harleigh; »Scott« hatte er sich mit fünf Jahren selber ausgesucht, weil ihm der Name gefiel, und er hat ihn lange benutzt, als Teenager aber schließlich den eigenen wieder für sich entdeckt.
    Die erste, zu der meine Gedanken und Gefühle wandern, ist Jennifer, Willies einzige Tochter, die zu Beginn jenes Jahres zum dritten Mal aus der Klinik weglief, in der ihre geschundenen Knochen wegen einer der vielen Infektionen gelandet waren, die sie in ihrem kurzen Leben schon hatte durchstehen müssen. Die Polizei gab nicht einmal vor, nach ihr zu suchen, ihr Fall war nur einer unter vielen, und diesmal halfen auch Willies juristische Kontakte nicht weiter. Der Arzt, ein großgewachsener, zurückhaltender Philippine, der ihr durch schiere Hartnäckigkeit das Leben gerettet hatte, als sie fieberschlotternd in die Klinik eingeliefert wurde, und der sie bereits kannte, weil er sie die beiden vorangegangenen Male behandelt hatte, erklärte Willie, er müsse seine Tochter umgehend finden oder sie werde sterben. Wenn sie über Wochen massive Gaben von Antibiotika bekäme, könne sie durchkommen, sagte er, aber einen Rückfall werde sie wohl nicht überleben. Wir saßen in einem gelbgestrichenen Wartezimmer mit Plastikstühlen, Plakaten zu Mammographie und Aidstests an den Wänden und voller Patienten, die dringend darauf warteten, behandelt zu werden. Der Arzt nahm seine Nickelbrille ab, wischte sie mit einem Papiertuch sauber und antwortete nur zögernd auf unsere Fragen. Er hatte weder für Willie noch für mich viel übrig, hielt mich vielleicht für Jennifers Mutter. In seinen Augen waren wir schuld, hatten Jennifer vernachlässigt und kamen jetzt, zu spät, reuig zu ihm. Er vermied es, uns Einzelheiten zu nennen, weil die unter die Schweigepflicht fielen, aber Willie erfuhr doch, daß die zu Spänen gewordenen Knochen und die vielfältigenInfektionen
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