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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
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Calw den neu gebauten Trakt für den Maßregelvollzug besichtigt, und Mark erinnerte sich noch gut an seine Verblüffung darüber, was heutzutage alles möglich war. Das Behandlungsgebäude war für rund 20 Millionen Euro von Architekten errichtet worden und glich eher einem Hotel denn einer Klinik für psychisch kranke Straftäter. Es gab eine Aufnahme- und Kriseninterventionsstation und vier Therapiestationen, von denen jede in zwei Gruppen mit zehn Betten aufgeteilt war, zu denen jeweils ein Wohn- und ein Essbereich mit offener Küche gehörten. Im ganzen Gebäude hatten hohe Glasfronten dominiert, sogar die mit hellem Holz vertäfelte Sporthalle hatte eine komplett verglaste Seite besessen.
    Im Gegensatz zu dieser Maßregelvollzugseinrichtung hier gab es in Calw auch keine Gitter vor den Fenstern. Die Architekten hatten das Problem eleganter gelöst – Sicherheitsglas, und über dem obersten Stockwerk eine in den Innenraum des Geländes ragende Dachkonstruktion. Auch Stacheldraht war nirgends zu sehen, stattdessen umgaben meterhohe Plexiglaswände den Außenbereich. Sie verhinderten, dass jemand hinausgelangte, versperrten aber nicht die Sicht auf die Natur.
    Mark bewegte die Zehen in den Schuhen und beobachtete, wie eine Frau aus der rechten Villa kam und schnell auf ihn zu-marschierte. Ihr weißer Kittel war offen, die Seiten flatterten beim Gehen um ihren Körper.
    Er sah zu, wie sie näher kam, und dachte daran, wie einer seiner Kollegen bei dem Besuch in Calw etwas von Verschwendung von Steuergeldern gemurmelt und hinzugefügt hatte, dass es den Typen hier drin viel zu gut ginge und dass die Gesellschaft in ihrer Humanitätsduselei ausblendete, dass es sich bei den vermeintlichen Patienten um Mörder, Kinderschänder und Drogendealer handelte. Er erinnerte sich noch gut an seine Verblüffung über diese Ansichten. Mit solch einer Grundhaltung war man als forensischer Psychiater ungeeignet, aber der Kollege schien seine Meinung bisher wohlweislich für sich behalten zu haben.
    Die Frau war inzwischen herangekommen, stand hinter dem inneren Tor und wartete darauf, dass der Beamte ihr öffnete. Unter dem Kittel trug sie eine graue Hose und einen schwarzen Pullover, unter dem am Halsausschnitt eine zartrosa Bluse hervorlugte. Das blonde Haar war zu einem losen Dutt zusammengezwirbelt. Mit der Stupsnase und den großen blauen Augen sah Agnes French wie ein Püppchen aus. Ein Fremder hätte sie eher für ein Model oder eine Schauspielerin gehalten, nicht jedoch für eine Ärztin, die täglich mit Schwerstkriminellen arbeitete. Jetzt summte das Tor, Mark ging hindurch und ergriff die ausgestreckte Hand. »Da bin ich wieder.«
    »Hallo, Mark. Komm rein.« Ihre Finger waren kalt. »Wir haben noch Zeit. Möchtest du erst einen Tee?«
    »Gern.« Mark sah zu, wie Agnes French zielsicher den richtigen Schlüssel an ihrem Bund fand und die Tür öffnete, folgte ihr in das Gebäude und wartete, bis sie hinter ihm wieder zugeschlossen hatte. Das Prozedere war immer gleich. Es dauerte schier endlos, sich durch die Gänge und Etagen zu bewegen, weil überall Zwischentüren umständlich geöffnet und wieder verschlossen werden mussten. Für modernere Systeme schien dem Land das Geld zu fehlen.
    »Da wären wir.« Agnes French stieß die Tür zu ihrem Büro auf und ließ ihn eintreten. Die Kollegin und er verfuhren bei jedem seiner Aufenthalte gleich – sie tranken zuerst gemeinsam eine Tasse Tee und besprachen ein paar Details, bevor Mark zum Gebäude drei aufbrach; manchmal begleitet von Agnes, die ihre Therapieräume ebenfalls dort hatte.
    Fünfzehn Minuten später machten sie sich auf den Weg.
    »Schreckliches Wetter heute, nicht?« Agnes French lief schnell über den Hof und rieb sich dabei die Hände. Mark fragte sich, warum sie keine Jacke trug. Er schaute auf die fünf Häuser. An jedem dritten Fenster führte eine Röhre aus Metallgeflecht herab, in der eine eiserne Leiter befestigt war – der Notausgang. Erst im Sommer hatte eine Firma die vorgeschriebenen Sicherheitseinrichtungen an den Außenseiten angebracht, weil erst jetzt die Gelder dafür bewilligt worden waren. In jedem Stockwerk befand sich jeweils vor zwei Fenstern ein schmales Podest, das zu den Metallröhren hinführte. Am oberen und unteren Ende waren diese verschlossen – man wollte schließlich nicht, dass die Patienten den »Fluchtweg« zu wörtlich nahmen.
    Mark lächelte, bis sein Blick auf eine Gestalt am Fenster im zweiten Stock des linken
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