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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
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ihm das alles wieder und wieder erklärt, und er hatte verstanden. Ein menschliches Herz war das sonderbarste und gleichzeitig das imponierendste Gebilde, das es gab.
    Das Faszinierendste aber war es zu sehen, wie so ein Herz arbeitete. Wie es sich zusammenzog und dunkelrot pulsierte, wie es Lebenssaft in die Adern spie und sich dann wieder entspannte, um sofort darauf von Neuem zu beginnen. Es gab Filme davon. Aber nichts übertraf den Anblick des echten, des lebenden Objekts. Die Erinnerung daran, wie er vor Ehrfurcht fast ohnmächtig geworden wäre, als es ihm das erste Mal gelungen war, die perfekte Arbeit dieses Organs zu beobachten, war noch immer übermächtig.
    Die Stimme hatte ihm genaue Anweisungen gegeben, wie er vorgehen sollte. Zuerst standen Übungen an kleineren Tieren auf dem Plan, danach waren die größeren dran gewesen: Meerschweinchen, Kaninchen, Schafe. Von Katzen und Hunden sollte er die Finger lassen, sie wehrten sich zu stark und hätten ihn während der Arbeit mit ihren Fangzähnen verletzen können. Pflanzenfresser hingegen waren dumm und schauten ihrem Schicksal paralysiert in die Augen. Die putzigen Kleintiere gab es in jedem Zoofachgeschäft, und Schafe konnte man sich nachts von irgendeiner Weide holen. Es war fast zu leicht gewesen, die Übungsobjekte zu betäuben und dann auf dem Tisch so zu befestigen, dass er ungehindert an den Brustkorb herankam.
    Ein Herz freizulegen und anschließend sauber zu entfernen, war eine Kunst. Das Wunderwerk verbarg sich im Brustkorb, gut geschützt hinter den Rippen. Zappelte der Spender, bestand die Gefahr, das wertvolle Gut beim Aufbrechen der Knochenbogen zu verletzen. Eine Fixierung des Körpers war unerlässlich. Dann musste man vorsichtig durch mehrere Hautschichten schneiden, was bei lebenden Objekten eine ziemlich blutige Angelegenheit war, und anschließend die Rippen aufsägen und spreizen. Erst jetzt wurde die Umhüllung, die das Herz umschloss, sichtbar, und es bedurfte jedes Mal einer gründlichen Spülung, ehe die weiß-gelbliche Färbung unter all der roten Flüssigkeit zutage trat.
    Die Stimme hatte ihn gelehrt, zu üben und sein Handwerk zu verfeinern. Es gab derzeit keinen Besseren als ihn. Er schluckte den letzten Brocken weich gekauten Papiers hinunter und erhob sich.
    Es war an der Zeit, sich auf die Suche nach einem menschlichen Spender des grandiosen Organs zu machen.

1
    Das Fahrrad schlingerte beim Bremsen über die Eisplatten, die sich in den Senken der gepflasterten Straße gebildet hatten. Patrick fuhr auf den Gehweg und stieg ab. Sein Atem kondensierte in weißen Spiralen, die in der Frostluft zerfaserten und dann nach oben schwebten, während sie immer durchscheinender wurden.
    Obwohl sie in gefütterten Handschuhen steckten, waren seine Finger so taub, dass ihm der Schlüsselbund zweimal auf die rissigen Gehwegplatten fiel, ehe er ihn richtig packen konnte. Mit einem Auto hatte man es im Winter leichter. Wenn über Nacht viel Schnee gefallen war, musste er manchmal sogar morgens das Rad stehen lassen und die Bahn nehmen. Aber er hatte weder das nötige Geld, um sich einen Wagen zu kaufen, noch das Einkommen, um die monatlichen Kosten zu tragen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als das Rad oder die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. In einer Großstadt wie Leipzig war das jedoch zu ertragen.
    Er befestigte das Bügelschloss an dem rostigen Zaun und ließ seinen Blick prüfend über die verfallenen Gebäude gleiten, die hinter den nackten Ästen der Birken hervorragten. Der bleifarbene Novemberhimmel hatte der maroden Fabrik alle Farben genommen, in ausgewaschenen Grau- und Brauntönen wirkte die Szenerie wie ein gelbstichiges Foto aus den Dreißigern. Patrick stellte sich vor, wie ein Vermummter mit einer Kettensäge in dem Haus mit dem Natursteinfundament auf ihn lauerte, fast vermeinte er, das Jaulen des Motors hören zu können und erschauerte. Dann zwang er ein Grinsen in sein Gesicht und schüttelte unmerklich den Kopf. Er hatte entschieden zu viele Horrorfilme gesehen.
    Das Schreiben und der Lageplan befanden sich in der Umhängetasche. Mit klammen Fingern kramte er nach dem gefütterten Umschlag, zog ein Blatt daraus hervor und betrachtete die Luftaufnahme mit den drei roten Kreuzchen. Zog man eine gedachte Linie zwischen ihnen, bildeten die Markierungen ein fast perfektes Dreieck. Den zugehörigen Brief musste Patrick nicht noch einmal lesen. Er kannte den Wortlaut inzwischen auswendig.
    »Sehr geehrte
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