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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
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Stunde hatte er das erste Therapiegespräch und wollte ganz bei seinem ersten Patienten sein. Zu schnell bog er von der Hauptstraße ab, und der Audi schlingerte kurz, ehe das Antiblockiersystem eingriff.
    Im Winter konnte man die vorderen Häuser des weiträumigen Ensembles schon von Weitem sehen. Die denkmalgeschützten Backsteingebäude leuchteten im Grau des Novembertages durch die nackten Äste der mächtigen Buchen. Das psychiatrische Krankenhaus Obersprung hatte erst vor Kurzem sein einhundertzehnjähriges Bestehen gefeiert. Die idyllische Lage sollte zur Genesung der Patienten beitragen. Irgendwo hatte er gelesen, dass auf dem Klinikareal fast zweitausend Bäume standen, die zum Teil so alt wie die ersten Gebäude waren. Mark fuhr am Haupteingang vorbei und bog auf einen Seitenweg ab, der direkt in den Wald zu führen schien.
    Die Fachklinik, an der er gerade vorbeigefahren war, hatte tausendsiebenhundert Mitarbeiter und verfügte über knapp dreihundert Klinikbetten. In fünf Abteilungen wurden psychisch kranke Kinder, suchtkranke Erwachsene oder Alzheimer-Patienten behandelt, zudem gab es ein separates Altenpflegeheim. Aber dieser Bereich war nicht sein Ziel. Er musste zu einem abgelegenen Gebäudekomplex, der von den anderen Klinikbereichen streng getrennt war.
    Im Schritttempo rollte der Audi an dem vier Meter hohen Maschendrahtzaun vorbei, auf dessen Oberkante vielfach verschlungene Rollen silbrigen Stacheldrahts glänzten. Der Hochsicherheitstrakt war durch zahlreiche Vorkehrungen von der Außenwelt abgeschirmt. Mark stellte das Auto auf dem Besucherparkplatz ab, sortierte seine Unterlagen und deponierte Handy und Schlüsselbund im Handschuhfach. Die feuchtkalte Luft außerhalb des Autos ließ ihn frösteln, und er lief schneller.
    Der Eingangsbereich befand sich zwischen zwei Backsteinvillen, die zwischen den meterhohen Eisenstangen und dem Drahtgewirr pittoresk und gleichzeitig fehl am Platz wirkten. In der Mitte der schmalen Straße wölbte sich der Zaun wie ein metallener Bauch nach vorn und reckte dem Betrachter ein großes zweiflügeliges Tor entgegen. Direkt daneben gab es eine kleinere Pforte für Fußgänger. Beide Eingänge führten in eine von Stacheldraht und Metallgeflecht umgebene Schleuse, an deren hinterem Ende ein weiteres Tor den Zugang zum Klinikgelände verschloss.
    Das schwarz-gelb gestreifte Pförtnerhäuschen an der linken Seite erinnerte Mark immer an London, warum, wusste er auch nicht. Er stellte sich direkt vor die Kamera und sagte sein Sprüchlein auf. Etliche der fast zweihundert Beamten kannten ihn. Er war schon oft hier gewesen, betreute seit Jahren Patienten und hatte zahlreiche Gutachten erstellt. Nicht jeder Facharzt für Psychiatrie und Neurologie konnte als forensischer Psychiater arbeiten. In Deutschland musste man eine dreijährige Weiterbildung absolvieren und mindestens ein Jahr in einer Einrichtung des Maßregelvollzugs gearbeitet haben. Hinzu kam eine von der Ärztekammer und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde vorgegebene Anzahl von Gutachten.
    Mit einem Summen öffnete sich das kleinere Tor, und Mark trat in den Schleusenbereich. Der Beamte hinter der Glasscheibe grinste und hob die Hand. »Guten Morgen, Herr Doktor. Wie immer: Sie geben mir Ihren Ausweis und zeigen mir, was Sie da drin haben.« Er deutete auf Marks Aktentasche. Ein nikotingelber Finger tippte auf eine Liste auf dem Schreibtisch. »Sie sind bis fünfzehn Uhr eingetragen. Also bitte alles hier rein.«
    Eine Schublade kam herausgefahren, Mark legte die geforderten Dinge in die Vertiefung und wartete, bis der Beamte alles inspiziert hatte, ihm die Aktentasche wieder herausschob und zum Telefon griff. »Kleinen Moment noch, Herr Doktor. Sie werden gleich abgeholt.«
    »Danke.« Mark sah sich um. Das zweite Tor führte in den Innenbereich des Geländes. Ein großer ovaler Platz wurde von fünf identisch aussehenden Gebäuden umrahmt. Alle waren aus demselben roten Backstein gemauert. Links davon befand sich eine weitere Villa, hinter der mehrere später hinzugekommene Funktionsgebäude standen. Im düsteren Novemberlicht wirkte das gesamte Areal wie ein altertümliches Gefängnis, und für die Patienten – allesamt Straftäter, die aus verschiedenen Gründen schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren – war es das wohl auch.
    Es gab weitaus modernere Fachkliniken. Erst vor zwei Monaten hatten sie bei einer Tagung der forensischen Psychiater in
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