Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
Vom Netzwerk:
Rechte drückte die Klinke herab, aber es rührte sich nichts. Er ließ den Lichtstrahl über die Wände gleiten und hätte dabei fast das Zeichen übersehen.
    Hektisch schwenkte er zurück, leuchtete auf das Symbol auf der Wand. Da war es: ein etwa zwanzig Zentimeter großes rotes Kreuz mit einem Kreis darum, in Höhe seiner Hüfte. Alles erstarrte für einen Moment mitten in der Bewegung, dann hörte Patrick sich selbst scharf einatmen. Der Lichtstrahl zitterte über dem Kreuz hin und her. Im Zeitlupentempo ließ er den Schein nach unten gleiten. Direkt darunter stand ein Behälter auf dem Boden. Er machte zwei Schritte darauf zu, ging in die Knie und leuchtete den Zylinder ab. Das Gefäß glich einem altmodischen Topf und schien aus olivgrünem Metall zu bestehen. Quer über den Deckel führte ein Metallriegel, der an beiden Seiten mit einem Klappverschluss befestigt war. Den Gedanken, das Gefäß gleich an Ort und Stelle zu öffnen, verwarf Patrick schnell wieder. Zum Öffnen würden beide Hände vonnöten sein, und dann fehlte das Licht. Der Behälter musste nach oben. Er prägte sich die genaue Lage ein und schob das Handy zurück in die Tasche. Die plötzliche Finsternis schien absolut. Vorsichtig umfassten die Hände das Gefäß, er hob es an, prüfte dabei automatisch das Gewicht und schätzte es auf fünf Kilogramm.
    Schritt für Schritt tastete er sich dann, mit der rechten Schulter die Wand berührend, die Stufen nach oben, bemüht, die kostbare Fracht gerade zu halten. Nach der letzten Biegung stellte Patrick fest, dass er vorhin recht gehabt hatte – der Wind hatte die Eingangstür zugedrückt. Er öffnete sie mit dem Ellenbogen und trat hinaus. Feine Schneeflocken schwebten vom grauen Himmel herab und ließen sich flüsternd auf dem Beton nieder.
    Er stellte seine Fracht ab und betrachtete den Topf eingehend, während er darüber nachdachte, ob er ihn öffnen sollte. Das Gefäß sah aus wie einer dieser Thermobehälter, die beim Camping oder bei der Armee verwendet wurden. Zumindest stand jetzt fest, dass sich hinter den Markierungen auf dem Lageplan tatsächlich etwas verbarg.
    Patrick entschied sich, ihn zu öffnen. So konnte er selbst entscheiden, ob das, was sich im Innern verbarg, von Bedeutung war, oder nicht. Die Kollegen in der Redaktion würden sich mit Sicherheit über ihn lustig machen, wenn er das verschlossene Gefäß mitbrachte und sich der Inhalt als Müll entpuppte. Irgendetwas war jedenfalls da drin, so viel schien ihm sicher, sonst wäre das Ding nicht so schwer gewesen.
    Er zog die Handschuhe ab, hockte sich hin und betrachtete die Verriegelung. Es handelte sich um einen Bügelverschluss, der an einer Seite eingehängt war und an der anderen mit einem Klappmechanismus geöffnet werden konnte.
    Mit einem metallischen Schnalzen schnappte der Riegel hoch, und der Deckel hob sich wie von selbst einige Millimeter. Patrick überlegte kurz, griff dann nach einem herumliegenden Zweig, schob diesen unter den Rand und drückte den Deckel hoch. Während dieser mit einem unmelodischen Scheppern absprang und davonrollte, starrte er mit gerunzelter Stirn auf das Innere des Behälters und beugte sich dann nach vorn, um an dem Inhalt zu riechen. Das leise Rascheln aus dem Gestrüpp rechts hinter ihm ließ ihn fast nach vorn umkippen, und sein Gesicht kam dem Gebilde in dem Thermobehälter näher, als ihm lieb war, bevor es ihm gelang, sich mit beiden Armen abzufangen. Das kaum hörbare Surren, das vom Hauptgebäude herüberdrang, nahm Patrick nicht wahr. Er kämpfte mit seiner Übelkeit.

2
    Im Verkehrsfunk warnte der Sprecher vor Schneefällen und Straßenglätte in der kommenden Nacht. Mark Grünthal richtete den Blick kurz nach oben und schaute dann wieder auf die Straße. Massige graue Wolken hingen dicht über den Baumwipfeln. Die verschmutzte Windschutzscheibe verstärkte die schwermütige Farbgebung noch. Wenn seine Termine nach Plan liefen, war er heute Abend längst wieder in Berlin. Und morgen konnte er zur Not die U-Bahn in die Praxis nehmen.
    Der November war kein besonders schöner Monat. Die Patienten schienen depressiver als sonst, ihre Symptome verstärkten sich auf seltsame Weise. Und auch Anna, seine Frau, wirkte bedrückt. Seit ein paar Wochen hatte er das Gefühl, sie wäre mit etwas unzufrieden. Fast jedem Gespräch darüber war sie bisher ausgewichen, Unterhaltungen wurden durch ihre Einsilbigkeit erstickt.
    Mark schüttelte die melancholischen Gedanken ab. In einer halben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher