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Das sechste Herz

Das sechste Herz

Titel: Das sechste Herz
Autoren: Claudia Puhlfürst
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Entscheidung zu fällen.
    Das erste Kreuz befand sich nicht weit von der Einfahrt entfernt an einem Gebäude, das einen spitzgiebeligen, mit Schieferplatten verkleideten Turm trug. Auf dem Satellitenbild schien sich die rote Markierung auf der rechten Ecke des Daches zu befinden. Das konnte heißen, dass die »Information« in dem Haus oder direkt davor versteckt war. Das zweite Kreuz war weiter hinten im Gelände eingezeichnet, das dritte an einer Linie, die wie ein schmaler Weg aussah. Von seinem Standpunkt aus konnte er beide Stellen nicht sehen.
    Mit misstönendem Kreischen flog ein Schwarm Krähen von einem der Bäume auf. Sie flatterten ein paar Sekunden über dem Haus mit dem Turm, drehten dann in seine Richtung ab und flogen über seinen Kopf hinweg davon. Patrick hatte den Eindruck, dass die schwarzen Vögel ihn im Vorbeifliegen argwöhnisch musterten, ehe sie im Grau des Vormittags verschwanden. Was mochte sie aufgeschreckt haben?
    Das Klingeln seines Handys ließ ihn erschauern. Ehe er es aus der Hosentasche genestelt hatte, war es schon verstummt. Auf dem Display stand »Hubert«. Patrick beschloss, nicht sofort zurückzurufen. Er hatte sich entschieden. Zuerst wollte er einen Zugang zu dem Gelände finden und sehen, was sich hinter der ersten Markierung verbarg. Danach konnte er sich bei Hubert melden und mit ihm zusammen besprechen, was weiter geschehen sollte. Noch einmal glitt sein Blick über den Lageplan, bevor er das Papier in der Jackentasche verstaute. Der Absender hatte um jedes Kreuzchen fein säuberlich einen runden Kreis gemalt. Das Ganze hatte etwas von einer Schatzsuche. Patrick verkniff sich ein Grinsen und setzte sich in Bewegung. Wenn er weiter so herumtrödelte, würde er mittags immer noch hier stehen. Seine Füße wurden auch allmählich kalt.
    Links vom Tor war das Gelände von einer zwei Meter hohen Mauer abgegrenzt. Rechts vom Pförtnerhäuschen dagegen erstreckte sich der rostige Zaun, an den er sein Fahrrad angeschlossen hatte. Patrick ging an seinem Drahtesel vorbei und überprüfte dabei die Eisenstäbe und das dichte Gestrüpp dahinter. Nach etwa zweihundert Metern machte der Weg einen Bogen und knickte nach links ab, wo er sich in einem Wäldchen verlor. Die Metallstreben der Umzäunung schienen hier, abseits der Straße, weniger stabil und standen nicht so dicht beieinander. Er kam nur langsam vorwärts. Der Boden war uneben, gefrorene Pfützen machten den Trampelpfad zu einer rutschigen Angelegenheit. Äste und Gesträuch beiseitebiegend, tastete Patrick sich vorwärts. Vielleicht fand sich weiter hinten eine Stelle, an der man ohne große Kletterkünste auf das Gelände kam. Nach geschätzten hundert Metern war er außer Atem. Wie eine asthmatische Dampflok stieß sein Mund weiße Wölkchen hervor.
    Langsam ging er weiter. Im gleichen Augenblick, in dem er sich erneut fragte, ob das hier überhaupt einen Sinn hatte, machte das Gestrüpp einer kleinen Lichtung Platz. Vertrocknetes Gesträuch umsäumte den Platz, von dem aus ein schmaler Trampelpfad wegführte, ein paar Hundert Meter am Zaun entlang, bis zu einem weiteren Waldstück.
    Patrick stieg über eine silbern leuchtende Coladose und betrachtete die Eisenstangen, die jemand in der Mitte auseinandergebogen hatte. An den rostig braunen Stäben links und rechts glänzten frische parallele Kratzspuren. Er beugte sich nach vorn und inspizierte die Stelle und das dahinterliegende Gelände. Hier war eindeutig vor Kurzem jemand durchgegangen. Und nicht nur einmal. Gelbe Grashalme waren abgeknickt, verdorrte Blütenstände niedergetreten. Patrick konnte selbst nicht sagen, warum er das Bedürfnis hatte, die Stelle zu fotografieren; aber er zog die Kamera heraus, schoss ein paar Bilder, markierte die Stelle auf dem Lageplan, verstaute beides wieder in den Taschen und schob seine froststarren Finger zurück in die Handschuhe.
    Dann quetschte er sich durch die Öffnung und hoffte dabei, dass der feuchte Rost keine bleibenden Flecken an seinem neuen grauen Anorak hinterlassen möge. Wenn sein Orientierungssinn ihn nicht trog, musste er jetzt nur geradeaus laufen, um zu dem Gebäude mit dem Turm zu kommen, bei dem eins der Kreuze eingezeichnet war. Feiner Schneeregen legte sich nun wie ein feuchter Schmierfilm auf sein Gesicht, und Patrick zog den Schal fester, während er voranstampfte. Die Krähen waren zurückgekommen und drehten ärgerlich krakeelend ein paar Runden über dem ungebetenen Eindringling, ehe sie sich auf einer der
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