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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin
Autoren: Allmen und die Libellen
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Martin Suter
     
    Allmen und Libellen
     
    Diogenes
     
    Erster Teil
     
    D as graue Licht machte alles flach
und leblos. Die Morgendämmerung stand still. Es war kühl in Allmens gläserner
Bibliothek. Vielleicht sollte er Feuer machen. Aber sein letzter Versuch im
vergangenen Winter war so kläglich gescheitert, dass er es bleiben ließ. Ohne
zu lesen saß er im Lesesessel und fröstelte. Auch das egal.
    Die Beine des Flügels hatten drei tiefe Abdrücke
hinterlassen. Selbst dieser Anblick löste nichts in ihm aus. Nichts als
lähmende Gleichgültigkeit.
    Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit er
Carlos in Mantel und Wollmütze auf das Haus hatte zukommen sehen. Er hatte ihn
die Treppe hinaufeilen hören und kurz darauf wieder herunterkommen. Carlos hatte
nicht hereingeschaut. Da er kein Licht gesehen hatte, musste er annehmen, Allmen
sei im Viennois. Wie jeden Vormittag um diese Zeit.
    Jetzt sah er Carlos draußen arbeiten. Er trug seine
Arbeitskleidung mit einer anderen, älteren Wollmütze und einer dick gefütterten
Arbeitsjacke.
    Allmen würde einfach hier sitzen und warten, bis er kam
und Mittagessen kochte. Er würde zu ihm in die Küche gehen und sagen: »Carlos?«
    Und Carlos würde antworten: »?Que
manda?«
    Und dann würde er sagen: »Es ist so weit, ich brauche las
libelulas.«
    Und falls er sie herausrückte, würde Allmen genau nach
Plan vorgehen. Und falls nicht? Auch egal.
    Er musste etwas eingedöst sein, doch dann hörte er
Geräusche aus der Küche. Es war noch dunkler geworden. Jeden Moment würde es zu
schneien beginnen.
    Allmen stemmte sich aus dem Sessel. Als er an der Stelle
vorbeiging, wo die Rückseite des Gewächshauses einem hohen Dickicht zugewandt
war, schien ihm, als hätte sich dort etwas bewegt.
    Dort standen die Parkbäume dicht und dunkel. Die Stämme hoher
Tannen und Fichten ragten aus einem fast undurchdringlichen Unterwuchs aus Eiben
und Farn. Manchmal sah Allmen an dieser Stelle einen Stadtfuchs herauskommen
oder verschwinden, der in den Gärten und Vorplätzen des Villenviertels nach
Essbarem suchte.
    Er ging zurück, stellte sich an die Glaswand und starrte
auf die Stelle.
    Ein harter Schlag traf seine Brust. Im Fallen hörte er ein
dumpfes Plopp und spürte einen Schmerz am Hinterkopf.
     
    Vormittags um halb elf war eine angenehme Stunde im
Viennois, vielleicht die angenehmste.
    Alles Abgestandene der vergangenen Nacht hatte sich
verflüchtigt, und das Muffige des Tages sich noch nicht festgesetzt. Es roch
nach der fauchenden Lavazza, an der Gianfranco gerade die Milch für einen
Cappuccino aufschäumte, den Croissants auf Tresen und Tischchen und den Parfüms
und Eaux de Toilette der paar Müßiggänger und Flaneure, denen um diese Zeit
das Viennois gehörte.
    Einer von ihnen las ein Buch. Ein englisches Paperback,
dem er den Rücken gebrochen hatte, damit er es einhändig lesen konnte wie
einen Kioskroman und die andere Hand frei hatte für sein spätes Frühstück und
die kalte Zigarettenspitze, mit der er sich seit Jahren das Rauchen abgewöhnte.
    Über der Lehne seines zweisitzigen Plüschfauteuils lag ein
beiger Regenmantel. Er trug einen mausgrauen, auch in dieser zusammengesunkenen
Stellung noch annehmbar sitzenden Anzug, eine schmale, kleingemusterte Krawatte
und ein eierschalenfarbenes Hemd mit weichem, kleinem Kragen. Er mochte etwas
über vierzig sein. Sein gutgeschnittenes Gesicht hätte eine etwas weniger
platte Nase verdient.
    Auf dem weißgedeckten Tischchen standen ein leerer
Unterteller aus schwerem Porzellan mit den Überbleibseln eines Croissants und
eine fast leere Tasse, an deren Innerem sich ein Milchschaumbelag festgesetzt
hatte. Der Mann war einer der letzten Gäste des Viennois, die »eine Schale«
bestellten, wie man früher den Milchkaffee nannte.
    Gianfranco brachte eine neue Tasse an den Tisch und
stellte die ausgetrunkene auf den freigewordenen Platz auf dem ovalen
Chromtablett. »Signor Conte«, murmelte er.
    »Grazie«, antwortete Allmen, ohne aufzuschauen.
    Sein voller Name lautete von Allmen, mit Betonung auf dem
von, wie Vonäsch, Vonlanthen oder von Arx. Es war ein sehr verbreiteter
Familienname mit tausendsiebenhundertachtunddreißig Telefonbucheinträgen und
hatte ursprünglich keine andere Bedeutung, als dass sein Träger von den Alpen
kam. Aber schon in jungen Jahren hatte von Allmen in einer republikanischen
Geste auf das »von« verzichtet und diesem damit eine Bedeutung verschafft, die
es nie besessen hatte.
    Mit
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