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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer
Autoren: Nicci French
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glaube, es ist sehr schnell gegangen.«
    Mrs.
    Vere nickte. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme plötzlich sehr heiser: »Ich habe gehört, dass sie am ganzen Körper Stichwunden hatte.«

    »Die haben sie ihr erst zugefügt, als sie schon tot war.«
    »Das arme Mädchen.« Ein Regentropfen klatschte auf ihre Wange und lief langsam zum Mund hinunter. Sie wischte ihn nicht weg.
    »Ja.« Ich fragte mich, was Pam Vere wohl dazu veranlasste, sich im Regen mit mir am Kanal zu treffen.
    Sie kehrte mir den Rücken zu und blickte aufs Wasser hinaus.
    »Philippa war ein braves Mädchen«, sagte sie.
    »Vielleicht haben wir sie zu sehr unter Druck gesetzt – sie war unser einziges Kind, müssen Sie wissen. Wenn ich mir jetzt manchmal Fotos von uns dreien anschaue, fällt mir auf, wie klein und allein sie zwischen uns wirkte.
    Zwei Erwachsene und ein kleines Kind. Dann, als sie elf war, starb ihr Vater, und es waren nur noch sie und ich übrig. Sie war immer noch ein braves Mädchen, ordentlich, rücksichtsvoll, hilfsbereit. Vielleicht sogar zu hilfsbereit. Sie war nicht unbeliebt, hatte aber trotzdem nicht allzu viele Freunde, als sie klein war. Sie spielte gern allein, mit ihrer geliebten Puppe. Oder sie war mit mir zusammen, half mir beim Kuchenbacken, Einkaufen und Putzen. Sie hat mir nie irgendwelchen Kummer bereitet.
    In der Schule war sie genauso – eine sehr fleißige Schülerin, stand in all ihren Zeugnissen. Sie war nicht überragend, aber sehr fleißig, eine Freude für jeden Lehrer. Sobald sie von der Schule nach Hause kam, machte sie ihre Hausaufgaben. Ein wirklich braves Kind.
    Sie setzte sich an den Küchentisch, aß ihren Toast mit Butter und Marmite und machte dann ihre Hausaufgaben, mit blauer Tinte und ihrer ordentlichen Handschrift, ihrem schwungvollen Y. Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in ihrer marineblauen Schuluniform mit gerunzelter Stirn dasaß und ihre Heftseite nach jeder Zeile mit einem Löschblatt abtupfte. Oder wie sie ihre Landkarten für Erdkunde farbig schraffierte, das Meer blau und die Wälder grün. Das machte sie besonders gern.
    Vor ein paar Tagen habe ich ihre Schulsachen aus der Kiste geholt und durchgesehen, all die Übungshefte mit dem Namen des jeweiligen Fachs in der rechten oberen Ecke, gefolgt von ihrem Namen und ihrer Klasse, was sie beides immer sauber mit dem Lineal unterstrich. Es kommt mir vor, als wäre das alles erst gestern gewesen.
    An manches konnte ich mich noch genau erinnern, zum Beispiel die Bilder, die sie als ganz kleines Mädchen von sich selbst gezeichnet hat, mit krakeligem gelbem Haar und einem rosa Halbkreis als Mund. Kinder zeichnen sich immer lächelnd, nicht wahr, obwohl Philippa eigentlich nie viel gelächelt hat. Später dann die Bleistiftzeichnungen von allen möglichen Blumen, mit ihren Stempeln und Staubgefäßen. Planeten. Die sechs Frauen von Henry VIII.
    Algebra. Je m’appelle Philippa Vere et j’ai onze ans.«
    Pam Veres französische Aussprache war tadellos. »Und ihre Schultagebücher. Sie haben am Montagmorgen immer Tagebuch geschrieben – was ich am Wochenende gemacht habe, in diesem Stil. Kennen Sie das?« Ich nickte nur, weil ich nicht wollte, dass sie zu erzählen aufhörte.
    »Ich habe alle Eintragungen gelesen. Und wissen Sie, was? Ich bin in allen vorgekommen. Sie hat immer darüber berichtet, was sie mit Mummy gemacht hat.
    Mummy und ich waren einkaufen, Mummy und ich waren am Spielplatz, Mummy hat mir ein Kätzchen geschenkt, es heißt Blackie, Mummy ist mit mir ins Museum gegangen.
    Mir ist plötzlich klar geworden, dass in ihren Tagebucheintragungen außer mir und ihr fast niemand vorkommt. Erst als ich diese Eintragungen gelesen habe, ist mir bewusst geworden, wie einsam sie gewesen sein muss. Sie hat sich nie beklagt.«

    Sie wandte mir ihr Gesicht zu. »Sie fragen sich bestimmt, warum um alles in der Welt ich Ihnen das erzähle, nicht wahr?«
    »Ich nehme an, Sie hatten einfach das Bedürfnis, einmal mit jemandem darüber zu reden.«
    »Ich bin mittlerweile eine alte Frau. Oh, ich weiß, ich bin noch nicht wirklich alt, erst Anfang sechzig und könnte noch dreißig Jahre leben, aber ich fühle mich plötzlich alt. Ich fühle mich doppelt so alt wie noch vor einem Jahr. Sie haben keine Kinder, oder?«
    »Nein.«
    »Lebt Ihre Mutter noch?«
    »Nein. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein kleines Kind war.«
    »Also deswegen.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Deswegen hatte ich das Gefühl, mit Ihnen darüber sprechen zu
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