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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer
Autoren: Nicci French
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Habseligkeiten in drei Stapel auf: einen für die Sachen, die sie mitnehmen würde, einen, den sie bis zu ihrer Rückkehr bei mir einlagern wollte, und einen für die Mülltonne, die Kleidersammlung oder mich. Der dritte Stapel war der bei weitem größte – sie war mit Freude dabei, sich von ihren Besitztümern zu trennen, ihr ganzes belastendes Gepäck wegzuwerfen.

    Sie deponierte ein Paar schwarze Riemchenschuhe auf den grellgelben Regenmantel, den sie sich vor lauter Frust über den ewigen Regen erst vor ein paar Wochen gekauft hatte. Es folgten eine beige Baumwollhose, von der sie behauptete, ihr Hintern habe darin eine komische Form, eine Jacke, die sie nie wirklich gemocht hatte, drei oder vier Sweatshirts, Strumpfhosen mit Laufmaschen, eine mit Glasperlen bestickte Tasche, ein schwarzer Rock, den sie für ihren kurzfristig ins Auge gefassten Bürojob erstanden hatte und den sie nun zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, als würde er stinken, des Weiteren ein limonengrünes T-Shirt und einen lila Rollkragenpulli.
    »Hier, dein rotes Kleid.« Sie nahm es vom Bügel und reichte es mir.
    »Behalte es.«
    »Was? Sei nicht blöd. Es gehört dir, und du siehst darin sehr schön aus.«
    »Ich hätte gern, dass du es behältst.«
    »Es ist nicht gerade sehr praktisch.« Sie kam trotzdem in Versuchung und streichelte es, als würde es leben.
    »Stopf es ganz unten in deinen Rucksack. Es wiegt doch fast nichts.«
    »Was, wenn ich es ruiniere oder verliere?«
    »Es gehört dir. Du kannst damit machen, was du willst.
    Nun zier dich nicht so, schließlich sortierst du gerade Zeug aus, als gäbe es kein Morgen. Lass mich doch auch mal!«
    »Na gut.« Sie beugte sich herüber und küsste mich auf die Wange. »Jedes Mal, wenn ich es trage, werde ich an dich denken.«
    »Tu das.« Bestürzt stellte ich fest, dass ich Tränen in den Augen hatte, und machte mich rasch daran, irgendwelche Kleidungsstücke zusammenzulegen.

    »Du warst so lieb.«
    »Wohl kaum. Die Hälfte der Zeit habe ich mich ungesellig und mürrisch verhalten, die andere Hälfte neurotisch.«
    »A propos mürrisch, was läuft eigentlich mit Will?«
    »Gar nichts.«
    »Du meinst, es ist vorbei?«
    »Ich weiß nicht. ›Vorbei‹ ist so ein großes Wort. Ich habe es in meinem Leben kaum jemals geschafft, etwas zu beenden, selbst wenn ich es wollte. Vielleicht überlasse ich es einfach ihm, die Sache zu beenden, indem er sich nicht mehr bei mir meldet. Oder er meldet sich doch, und dann – keine Ahnung, was ich dann machen werde. Auf jeden Fall tut er mir nicht gut. Er ist zu hart, wie ein Fels, an dem ich mich immer verletzen würde.«
    »Wahrscheinlich hast du Recht. Bestimmt lernst du bald jemand Neuen kennen, du wirst schon sehen.«
    »Was ist mit diesen Shorts hier?«
    »Weg damit! Deine Blutergüsse sind blasser geworden, gelb und braun, nicht mehr so unglaublich lila. Tut es noch weh?«
    »Nicht besonders – ein bisschen.« Ich strich vorsichtig mit den Fingern darüber.
    »Seltsamer Sommer.«
    »Das kannst du laut sagen. Inzwischen erscheint mir das alles so irreal, wie ein Geschichte, die jemand anderem passiert ist.«
    »Hast du auch manchmal das Gefühl, das Erwachsensein bloß zu spielen?«
    Ich richtete mich auf und griff nach einem knallblauen, westenartigen Oberteil. »Das solltest du mitnehmen.«

    »Ich meine, ich fühle mich überhaupt nicht erwachsen«, fuhr Julie fort. »Es ist, als hätte ich mich gerade mal einen Schritt vom Kindsein entfernt. Allerdings lebe ich auch nicht gerade auf eine sehr erwachsene Weise, stimmt’s?
    Ich lasse mich treiben, werde nirgendwo sesshaft, habe weder einen festen Job noch Zukunftspläne, und trage Klamotten für Teenager – wie dieses Oberteil«, fügte sie hinzu, griff nach der blauen Weste und legte sie zu den Sachen, die sie mitnehmen wollte. »Du dagegen hast diesen tollen Beruf und eine Wohnung, die Lichtjahre von unseren Studentenbuden entfernt ist – du hältst sogar Vorträge auf Konferenzen! Aber fühlst du dich auch so?«
    »Nein.« Ich warf mit einem Seidenslip nach ihr. Sie stopfte ihn in den Rucksack. »Ich empfinde das alles wie eine Art Fassade, hinter der ich mich verstecke. Aber ich glaube, das geht jedem so. Wir haben das Gefühl, dass alle anderen ihr Leben besser im Griff haben. Wahrscheinlich werden wir uns auch noch mit hundert so fühlen.«
    »Vielleicht.« Sie grinste. »Aber ich bin wirklich so.
    Deswegen laufe ich jetzt auch wieder davon. Ich mag das wirkliche Leben
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