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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer
Autoren: Nicci French
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ja wiederum die Definition eines Unfalls: Irgendetwas bricht gewaltsam in das ein, worauf man gerade seine Gedanken konzentriert, wie ein Räuber, der einen auf einer unbelebten Straße überfällt.
    Als es schließlich darum ging, die Ergebnisse zusammenzufassen, war das zugleich einfach und schwer.
    Einfach deshalb, weil die meisten Schlussfolgerungen auf der Hand lagen. Wie schon auf dem Arzneifläschchen zu lesen steht, sollte man unter dem Einfluss von Medikamenten keine schweren Maschinen bedienen.
    Ebenso wenig sollte man die Schutzvorrichtung von der Kleiderpresse entfernen, selbst wenn sie einen stört, und es ist auch nicht ratsam, einen fünfzehnjährigen Lehrling mit der Bedienung des Geräts zu betrauen. Vor dem Überqueren einer Straße sollte man in beide Richtungen sehen.
    Doch sogar Letzteres war problematisch. Wir versuchten, Dinge zu fassen zu bekommen, die die Leute irgendwo am Rand registriert hatten. Das Problem dabei ist, dass kein Mensch es schafft, alles, was er wahrnimmt, auch bewusst in sein Denken einzubeziehen. Sobald wir uns einer Gefahrenquelle zuwenden, bekommt etwas anderes Gelegenheit, sich von hinten an uns heranzuschleichen. Wenn wir nach links sehen, hat irgendetwas rechts von uns die Chance, uns zu kriegen.
    Vielleicht ist es das, was uns die Toten erzählt hätten.
    Und vielleicht wollen wir manche dieser Unfälle ja auch gar nicht missen. Wenn ich mich in meinem Leben verliebt habe, dann nie in den Menschen, den ich eigentlich hätte mögen sollen, den netten Kerl, mit dem meine Freunde mich verkuppeln wollten. Was nicht heißen soll, dass es jedes Mal der Falsche war, aber in der Regel doch jemand, der in meinem Leben eigentlich gar nichts verloren gehabt hätte. Ich habe mal einen wunderschönen Sommer mit jemandem verbracht, den ich kennen lernte, weil er der Freund eines Freundes war, der meiner besten Freundin beim Umzug in ihre neue Wohnung half, weil der andere Freund, der eigentlich kommen und helfen wollte, bei einem Fußballspiel einspringen musste, weil ein anderer sich das Bein gebrochen hatte.
    Das alles ist mir bekannt, aber dieses Wissen bringt nichts. Es hilft einem lediglich, das Geschehene im Nachhinein zu verstehen. Und manchmal nicht einmal das.
    Trotzdem ist es passiert, daran besteht kein Zweifel. Ich nehme an, das Ganze begann damit, dass ich in die andere Richtung schaute.
    Es war an einem sonnigen Vormittag im Mai. An meiner Zimmertür klopfte es, und noch ehe ich etwas sagen konnte, ging sie auf, und ich sah das lächelnde Gesicht von Francis vor mir. »Dein Termin ist abgesagt worden«, erklärte er.
    »Ich weiß.«
    »Dann hast du ja Zeit …«
    »Also …«, begann ich. In der Welbeck-Klinik war es immer gefährlich zuzugeben, dass man Zeit hatte, denn dann wurde einem sofort irgendeine Arbeit aufs Auge gedrückt. In der Regel handelte es sich dabei um die Dinge, mit denen sich die älteren Kollegen nicht herumschlagen wollten.
    »Kannst du eine Beurteilung für mich übernehmen?«, fragte Francis rasch.
    »Also …«
    Sein Lächeln wurde breiter. »Was ich eigentlich sagen will, ist natürlich: ›Übernimm eine Beurteilung für mich!‹, aber ich formuliere es aus Gründen der Höflichkeit auf die konventionelle, weniger direkte Art.«
    Das ist einer der Nachteile, die man in Kauf nehmen muss, wenn man in einem therapeutischen Umfeld arbeitet: Man hat mit Leuten wie Francis Hersh zu tun, der erstens nicht einmal guten Morgen sagen konnte, ohne es in Anführungszeichen zu setzen und anschließend sofort zu analysieren, und zweitens … Aber lassen wir das. Im Fall von Francis könnte ich mich über zweitens und drittens locker bis zu zehntens vorarbeiten.
    »Worum geht’s?«
    »Eine Polizeisache. Sie haben jemanden aufgegriffen, der auf der Straße herumgebrüllt hat oder so was in der Art. Wolltest du gerade gehen?«
    »Ja.«
    »Das passt ja wunderbar. Du brauchst auf dem Heimweg nur schnell auf dem Revier in Stretton Green vorbeizuschauen und einen Blick auf den Typen zu werfen, damit sie ihn schnell wieder loskriegen.«
    »In Ordnung.«
    »Frag nach DI Furth. Er erwartet dich.«
    »Wann?«
    »Vor ungefähr fünf Minuten.«
    Ich rief Poppy an, mit der ich auf einen Drink verabredet war, und erwischte sie gerade noch rechtzeitig, um ihr zu sagen, dass ich mich ein paar Minuten verspäten würde.
    Wenn jemand wegen öffentlicher Ruhestörung auffällig wird, kann es recht schwierig sein zu beurteilen, ob der oder die Betreffende bösartig,
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