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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer
Autoren: Nicci French
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hielt es für das Beste, die Tür zu dieser Episode fest zu schließen.
    Natürlich hatte das Mädchen selbst die Möglichkeit, die Wahrheit über ihre Herkunft herauszufinden, als sie vor ein paar Monaten achtzehn wurde.«
    »Die Telefongespräche.«
    »Ich wusste nichts davon, bis ich von den Telefongesprächen hörte, den Gesprächen zwischen Philippa und … und ihr. Ich wollte kein Beweismaterial zurückhalten. Sie würden wahrscheinlich sagen, dass ich es einfach nicht wissen wollte, aber glauben Sie mir, es ist in den letzten achtzehn Jahren keine einzige Woche vergangen, in der ich nicht daran gedacht habe, wie dieses Neugeborene meinen Finger umklammerte und mich anstarrte. Und ich frage mich, ob eine einzige Stunde vergangen ist, ohne dass Philippa daran dachte. Wir haben nie darüber gesprochen, nicht einmal nach Emilys Geburt haben wir über unsere Gefühle geredet.«
    Endlich sah sie mir in die Augen. »Deswegen wollte ich mich mit Ihnen treffen. Um zu erfahren, ob meine Enkelin leiden musste.«
    Dann war es bei dieser ganzen traurigen Geschichte also um eine Tochter auf der Suche nach ihrer Mutter gegangen, um eine Mutter auf der Suche nach ihrer Tochter.
    »Ich frage mich, ob sie einander gefunden haben, bevor sie umgebracht wurden«, sagte ich schließlich.
    »Manchmal tröste ich mich mit dem Gedanken, dass es so war. Dass es Philippa endlich vergönnt war, ihr Baby im Arm zu halten. Aber wir werden es nie wissen, nicht wahr?«
    »Nein, das werden wir nicht.«
    Wir hatten uns bereits verabschiedet, als Pam Vere plötzlich die Hand auf meinen Arm legte.
    »Ich wollte Sie noch fragen«, sagte sie, »ob es wohl möglich wäre, dass meine Enkelin im selben Grab beerdigt wird wie meine Tochter. Glauben Sie, das ginge?«
    »Lianne ist eingeäschert worden«, antwortete ich. »Ihre Asche wurde verstreut.«
    »Oh, ich verstehe«, sagte Pam. »Dann hat sich das wohl erledigt.«

    Ich ging zu Fuß nach Hause. Die Stufen vom Kanal hinauf, die tristen Straßen entlang. Durch die Fenster konnte ich Leute sehen, die alle ihr eigenes Leben führten: einen Mann mit einer Geige, den Bogen bereit zum Spiel, eine Frau, die angeregt in ein Telefon sprach, die freie Hand in der Luft, einen nackten kleinen Jungen, der im ersten Stock am Fenster saß und mit trauriger Miene auf die Straße hinausblickte. Ich betrachtete die Gesichter der mir entgegenkommenden Menschen. Kein Gesicht ist gewöhnlich. Jedes Gesicht ist irgendwie schön, wenn man es nur auf die richtige Weise betrachtet.
    Julie wartete schon auf mich. Aus der Küche wehte mir Knoblauchduft entgegen, und auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen gelben Rosen. Ihr Rucksack lehnte neben der Tür, prall gefüllt, für die Abreise bereit und mit dem Adressanhänger einer Fluglinie versehen. Ich setzte mich an den Tisch, holte das Foto meiner Mutter heraus und legte es vor mich hin. Sie lächelte mir über all die Jahre hinweg zu, die ich sie vermisst hatte. Ihre klaren Augen leuchteten. Die Sonne schien auf ihr junges, glückliches Gesicht. Mir war plötzlich sehr friedlich und sehr traurig zumute. Ich war noch nie gut im Abschiednehmen.

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