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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer
Autoren: Nicci French
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gehen!« Rasch schob ich meinen Stuhl zurück.
    »Sei nicht blöd!«
    »Nein, wirklich, ich möchte gern. Ich habe die Kinder den ganzen Abend nicht gesehen. Ich möchte ihnen gute Nacht sagen.«
    Ich rannte praktisch aus dem Zimmer. Während ich die Treppe hinaufstieg, hörte ich Kinderfüße den Gang entlangrennen, begleitet von leisem Wimmern. Als ich schließlich in ihr Zimmer trat, lagen Amy und Megan bis zum Hals zugedeckt in ihren Betten. Megan, mit ihren sieben Jahren die Ältere der beiden, stellte sich schlafend, auch wenn mir ihre zitternden Lider verrieten, welche Anstrengung es sie kostete, die Augen geschlossen zu halten. Die fünfjährige Amy hatte die Augen weit offen.
    Neben ihr auf dem Kissen lag ein Plüschhase mit Knopfaugen und abgewetzten Ohren.
    »Hallo, ihr zwei!« Ich ließ mich auf dem Fußende von Amys Bett nieder. Im Licht des Nachtlämpchens konnte ich sehen, dass sie einen roten Fleck auf der Wange hatte.
    »Kitty«, sagte sie. Abgesehen von Albie waren diese beiden die einzigen Menschen, die mich Kitty nannten.
    »Megan hat mich geschlagen.« Megan setzte sich entrüstet auf. »Lügnerin! Sie hat mich gekratzt! Schau her! Man kann es noch genau sehen!« Sie hielt mir ihre Hand hin.
    »Sie hat Spatzenhirn zu mir gesagt!«
    »Hab ich nicht!«
    »Ich bin gekommen, um euch gute Nacht zu sagen.«
    Beide saßen jetzt mit zerzausten Haaren, leuchtenden Augen und geröteten Wangen in ihren Betten. Ich legte eine Hand auf Amys Stirn. Sie fühlte sich heiß und feucht an. Ein sauberer Geruch nach Seife und Kinderschweiß stieg von ihr auf. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase und ein spitzes Kinn.
    »Es ist schon spät«, sagte ich.
    »Amy hat mich aufgeweckt«, erklärte Megan.
    »Oh!«, sagte Amy voller Entrüstung.
    Von unten drang Stimmengemurmel und das Geklapper von Besteck herauf. Jemand lachte.
    »Wie bringe ich euch zwei jetzt zum Einschlafen?«
    »Tut es noch weh?« Amy stupste mit einem Finger gegen meine Wange. Ich zuckte zurück.
    »Inzwischen nicht mehr.«
    »Mummy sagt, es ist eine Schande«, erklärte Megan.
    »Ja?«
    »Und sie hat gesagt, dass Albie nicht mehr bei dir ist.«
    Albie hatte sie oft gekitzelt und ihnen Lutscher geschenkt.
    Oder die Hände vor den Mund gelegt und hineingeblasen, was dann wie der Schrei einer Eule klang.
    »Das stimmt.«
    »Wirst du jetzt keine Babys bekommen?«
    »Schsch, Amy, so was sagt man nicht!«
    »Eines Tages vielleicht schon«, antwortete ich. Ich spürte ein leichtes, sehnsüchtiges Ziehen in meinem Bauch. »Aber jetzt noch nicht. Soll ich euch eine Geschichte erzählen?«
    »Ja!«, antworteten beide mit triumphierender Stimme.
    Nun hatten sie erreicht, was sie wollten.
    »Eine kurze.« Ich durchforstete mein Gedächtnis nach einer geeigneten Geschichte. »Es war einmal ein Mädchen, das lebte mit seinen zwei hässlichen Schwestern
    …«
    Aus den Betten ertönte einstimmiges Stöhnen. »Nein, die nicht!«
    »Lieber Schneewittchen? Die sieben Raben? Rapunzel?«
    »La-angweilig! Erzähl uns eine, die du dir selbst ausgedacht hast«, forderte Megan mich auf. »Eine Geschichte aus deinem Kopf.«
    »Über zwei Mädchen …«, schlug Amy vor.
    »… die Amy und Megan heißen …«
    »… und ein Abenteuer in einem Schloss erleben.«
    »Also gut, also gut! Mal sehen.« Ich begann zu sprechen, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie ich weitermachen würde.
    »Es waren einmal zwei kleine Mädchen namens Megan und Amy. Megan war sieben und Amy fünf. Eines Tages verirrten sich die beiden.«
    »Wie?«
    »Sie machten einen Spaziergang mit ihren Eltern. Es war am frühen Abend, und plötzlich kam ein schlimmes Gewitter, mit Donner und Blitz und wilden Sturmböen.
    Die Mädchen versteckten sich in einem hohlen Baum, aber als der Regen aufhörte, merkten sie, dass sie ganz allein in einem großen Wald waren und keine Ahnung hatten, wo sie sich befanden.«
    »Gut«, meinte Megan.
    »Deswegen sagte Megan, sie sollten losmarschieren und nach einem Haus suchen.«
    »Und was habe ich gesagt?«
    »Amy sagte, sie sollten die Brombeeren an den Büschen rundherum essen, um nicht vor Hunger zu sterben. Die beiden gingen und gingen. Immer wieder fielen sie hin und schürften sich die Knie auf. Es wurde dunkler und dunkler, am Himmel zuckten Blitze, und immer wieder flogen große schwarze Vögel ganz knapp an ihnen vorbei und gaben dabei schreckliche kreischende Geräusche von sich. Aus den Büschen starrten sie Augen an …
    Tieraugen.«
    »Panther.«
    »Ich glaube
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