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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer
Autoren: Nicci French
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herum. Seb stand in der Tür und lächelte. »Wo hast du die Geschichte her? Aus der Bruno-Bettelheim-Sammlung von Gutenachtgeschichten?«
    Er begleitete seine Frage mit einem Grinsen, aber ich meinte es ernst, als ich antwortete: »Das war ein Traum, den ich im Krankenhaus hatte.«
    »Ich nehme an, in deinem roten Zimmer gab es weder Spielsachen noch ein warmes Bett.«
    »Nein.«

    »Was war in dem Zimmer?«
    »Ich weiß es nicht.« Das war gelogen. Ich spürte, wie mein Magen sich verkrampfte.

    Später machte mir mein betrunkener Freund, der daran glaubte, dass Gott der Urknall war, das Angebot, mich nach Hause zu fahren. Ich lehnte dankend ab und ging zu Fuß. Von Poppy und Seb bis zu meiner Wohnung in Clerkenwell waren es nur gut eineinhalb Kilometer. Der kühle, feuchte Wind blies mir ins Gesicht, und meine Narbe kribbelte leicht. Der Halbmond schwebte zwischen dünnen Wolken über den orangefarbenen Straßenlampen.
    Ich fühlte mich zufrieden und zugleich traurig, auf jeden Fall ein wenig beschwipst. Ich hatte meine Rede dann doch noch gehalten – darüber, wie sehr mir der Beistand meiner Freunde in dieser schlimmen Zeit geholfen habe und dass ich das Leben jetzt noch mehr schätzte. Ich hatte all die abgedroschenen, aber wahren Phrasen von mir gegeben und anschließend Apfelkuchen gegessen. Dann hatte ich mich entschuldigt und war aufgebrochen. Nun war ich endlich allein.
    Meine Schritte hallten in den leeren Straßen wider, wo Wasserlachen glitzerten und der Wind klirrende Blechdosen in die Hauseingänge trieb. Eine Katze schmiegte sich um meine Beine und verschwand dann im Schatten einer Seitenstraße.
    Zu Hause fand ich eine Nachricht von meinem Vater auf dem Anrufbeantworter vor. »Hallo«, sagte er mit klagender Stimme. Er hielt inne, wartete einen Moment.
    »Hallo? Kit? Hier ist dein Vater.« Das war’s.
    Es war zwei Uhr morgens, und ich fühlte mich hellwach.
    Mir schwirrte richtig der Kopf. Ich machte mir eine Tasse Tee – nichts leichter als das, wenn man alle ist. Ein Beutel, kochendes Wasser darüber, dazu ein paar Tropfen Milch.
    Manchmal esse ich im Stehen vor dem Kühlschrank oder während ich in der Küche herumstöbere. Eine Scheibe Käse, einen Apfel, ein altes Brötchen aus der Tüte, einen Keks, auf dem ich geistesabwesend herumkaue.
    Orangensaft trinke ich meistens gleich aus dem Karton.
    Als Albie noch da war, gab es immer große, aufwändige Mahlzeiten – überkochende Pfannen voller Fleisch mit Unmengen von Kräutern und Gewürzen. Seltsame, unförmige Käse auf dem Fensterbrett. Entkorkt bereitstehende Weinflaschen. Lautes Lachen, das durch sämtliche Räume hallte. Ich ließ mich auf dem Sofa nieder und nippte an meinem Tee. Und weil ich allein war und in sentimentaler Stimmung, holte ich ihr Foto heraus.
    Sie war damals in meinem Alter, das wusste ich, aber sie sah unglaublich jung aus, als wäre die Aufnahme vor langer, langer Zeit entstanden. Wie ein weit entferntes Kind oder jemand, den man durch ein Tor am Ende des Gartens erspäht. Sie saß in ausgefransten Jeansshorts und einem roten T-Shirt auf einem Flecken Gras, einen Baum im Rücken. Ihre nackten runden Knie waren vom Sonnenlicht gesprenkelt. Sie hatte ihr langes hellbraunes Haar hinter die Ohren geschoben, aber eine vorwitzige Strähne war entwischt und fiel ihr über ein Auge. Sie hatte ein weiches, rundes, mit winzigen Sommersprossen übersätes Gesicht und graue Augen und sah aus wie ich.
    Das sagte jeder, der sie gekannt hatte: »Du bist wirklich das Ebenbild deiner Mutter. Armes Mädchen«, fügten sie dann meist hinzu. Damit meinten sie wohl mich. Oder sie.
    Wahrscheinlich uns beide.
    Sie starb, bevor ich alt genug war, um sie im Gedächtnis zu behalten, auch wenn ich oft versucht habe, mich durch den Nebel der ersten Lebensjahre hindurchzukämpfen, um zu sehen, ob ich sie an den ausgebleichten Rändern meiner Erinnerung finden konnte. Alles, was ich besaß, waren Fotos wie dieses und die Geschichten, die mir andere über sie erzählt hatten. Ich kannte sie nur durch die Worte anderer Menschen. Deswegen war das, was mir jetzt so sehr fehlte, auch nicht wirklich meine Mutter, sondern meine unglaublich zärtliche Vorstellung von ihr.
    Dank des Datums, das mein Vater so gewissenhaft auf die Rückseite geschrieben hatte, wusste ich, dass sie zu dem Zeitpunkt bereits schwanger war, auch wenn man es noch nicht sah. Ihr Bauch war flach, aber ich war schon da. Für niemanden sichtbar. Deshalb liebte ich dieses Foto so:
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