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Stiller und der Gartenzwerg - Main-Krimi

Stiller und der Gartenzwerg - Main-Krimi

Titel: Stiller und der Gartenzwerg - Main-Krimi
Autoren: Peter Freudenberger
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Prolog
    Ihr Gesicht hat schöne Züge. Sonst ist wenig Gefälliges an ihr. Selbst zu dieser frühen Stunde, beim ersten Dämmern des Morgens, sind die Entstellungen ihres Körpers nicht zu übersehen. Das verfilzte, zu früh ergraute Haar, aus dem ganze Büschel ausgerissen sind. Die braunen Wundmale auf der Brust, das Blau der Blutergüsse auf den aufgedunsenen Schenkeln. Die gebrochenen Finger.
    Die grüne Gärtnerjacke, das einzige Kleidungsstück, das sie ihr außer einem roten Halstuch und einem schmutzigen Baumwollslip gelassen haben, um ihre Blöße zu bedenken, ist oben weit aufgerissen. Die Taille dagegen ist so fest geschnürt, dass der breite Ledergürtel durch den Stoff hindurch tief in den Leib schneidet. Eine der vielen Misshandlungen, die sie erlitten hat.
    Sie haben sie an ein Kreuz aus zwei Stangen gebunden. Holzstangen, die zerbrechlich wirken, kaum stark genug, ihr Gewicht zu tragen. Doch sie hat keine Kraft, das Holz zu brechen. Sie ist die Gebrochene. Ihre Beine hängen schlaff herab, können sie nicht stützen. Ihr Rücken ist unnatürlich gekrümmt, sie ist nicht fähig, sich zu bewegen oder Schmerz zu empfinden.
    In ihrem Gesicht ist keine Farbe. Ein fahler Fleck in der Dämmerung. Das matte Weiß betont die schönen Züge. Über den dunklen Augen sind die Lider mit den schwarzen Wimpern halb geschlossen. Unter der feinen Nase schwingt sich ein voller, sinnlicher Mund, der sie, ebenso wie die mandelförmigen Augen, als Asiatin zu erkennen gibt. Trotz ihres Leids scheint sie sanft zu lächeln, demütig auf die Rückkehr ihrer Peiniger zu warten. Doch wie ihrem Gesicht die Farbe, so fehlt ihr selbst jedes Bewusstsein.
    Zaghaft hellt sich der Horizont im Osten auf, die Sterne verblassen. Mit dem Morgen erhebt sich ein leichter Lufthauch, lässt das junge Laub der Obstbäume leise rascheln. Ein Windrad beginnt, sich quietschend zu drehen, eine Amsel schreckt auf und schimpft. Vereinzelte Autos rauschen über die nahe Großostheimer Straße, die das Gelände vom Mainufer trennt. Immer mehr Vögel erwachen und trillern Lieder in die kühle Luft. Die Beete in den Gärten ringsum verströmen einen erdigen Geruch, frisch gemähter Rasen duftet feucht. Sie riecht es nicht. Sie hört nicht den anschwellenden Vogelgesang, spürt nicht den Wind, friert nicht, scheint nichts zu sehen.
    Plötzlich geschieht etwas Unerwartetes. Eine Gestalt, einem Schatten gleich, tritt in ihr Gesichtsfeld, kommt auf dem Weg, der sich zwischen den Gärten entlangzieht, langsam auf sie zu.
    Über die Zäune hinweg zeigt sich der Oberkörper, aber im Grau der Dämmerung lässt sich nicht ausmachen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Zudem hat sich der Schatten eine Kapuze über den Kopf gezogen. Der Kies knirscht nicht, die Gestalt bleibt auf der Grasnarbe am Rande des Wegs, vorsichtig bemüht, jedes Geräusch zu vermeiden. Mehrmals hält sie inne, lauscht oder späht in die Gärten hinter den Zäunen.
    Am Nachbargarten bleibt der Schatten erneut stehen. Seine Hände greifen prüfend nach dem oberen Holm des niedrigen Türchens, dann packt er zu und schwingt sich hinüber. Dem Schwung nach ist es ein Mann. Kurz verdeckt ihn eine Hecke, dann erscheint er wieder in der Mitte einer kleinen Wiese. Er bückt sich, hebt hier und da etwas auf, wiegt es, legt es zurück. Er ist nicht ihretwegen gekommen. Er sucht etwas am Boden. Im feuchten Gras, das die niedrigen Johannisbeersträucher entlang des Zaunes verdecken.
    Ein Hahn kräht. Der Schatten richtet sich jäh auf, sieht sich um. Sekundenlang starrt er zu ihr herüber, bewegt sich nicht. Sie bleibt ebenfalls reglos, erwidert seinen Blick, ein stummes Flehen. Es hat etwas Gespenstisches, wie sie sich so gegenüberstehen. Auf der einen Seite der Schatten, gesichtslose Schwärze unter der Kapuze wie in alten Darstellungen des Todes. Auf der anderen die Geschundene, Gebundene, die wie tot scheint, der leichenblasse Fleck ihres Gesichts.
    Noch immer steht er auf der Wiese des Nachbargartens, wartet lauschend, während in Richtung Frankfurt ein frühes Flugzeug über die Stadt grollt. Über ihm bläht sich die Fahne am Ende des Mastes, der aus der Wiese spitz in den grauen Himmel sticht. Schließlich bückt er sich nochmals, packt einen Gegenstand, wiegt ihn wie die vorigen. Doch diesen verbirgt er unter der Jacke. Kurz lässt er ihn dabei über den Sträuchern sehen, es ist eine Art Kegel. Der Schatten wendet sich um und läuft davon – schneller, als er gekommen ist. Diesmal stützt
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