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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer
Autoren: Nicci French
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betrunken, geisteskrank, körperlich krank, verwirrt, missverstanden, grundsätzlich ein Ekel, aber harmlos oder – in Einzelfällen – eine echte Bedrohung ist. Normalerweise verfährt die Polizei mit solchen Fällen recht willkürlich. In der Regel rufen sie uns nur, wenn extreme und eindeutige Gründe vorliegen. Vor einem Jahr aber war ein bereits festgenommener, dann jedoch wieder auf freien Fuß gesetzter Mann ein paar Stunden später mit einer Axt bewaffnet in der nächsten Hauptstraße aufgetaucht und hatte zehn Personen verletzt, von denen eine alte Frau ein paar Wochen später starb. Es hatte eine Meinungsumfrage gegeben, deren Ergebnis seit einem Monat vorlag, was zur Folge hatte, dass uns die Polizei zurzeit ständig um Rat bat.
    Ich war schon mehrmals auf dem Revier gewesen, mit Francis oder allein. Das Komische daran war, dass wir, indem wir nach bestem Wissen und Gewissen herauszufinden versuchten, was mit diesen meist recht traurigen, verwirrten und übel riechenden Gestalten, die uns in einem Raum in Stretton Green gegenübersaßen, los war, in erster Linie der Polizei ein Alibi verschafften.
    Wenn dann das nächste Mal etwas schief ging, konnten sie die Verantwortung auf uns abwälzen.
    Detective Inspector Furth war ein gut aussehender Mann, nicht viel älter als ich. Er begrüßte mich mit einem amüsierten, fast unverschämten Gesichtsausdruck, der mich veranlasste, nervös an meinen Kleidern hinunterzusehen, ob alles richtig saß. Aber schon einen Moment später wurde mir klar, dass das sein ganz normaler Gesichtsausdruck war, sein Schutzschild gegen die Welt. Er trug sein blondes Haar streng nach hinten gekämmt, und sein Kinn war kantig wie mit dem Lineal nachgezogen. Seine Haut wirkte leicht narbig. Vielleicht hatte er als Kind unter Akne gelitten.

    »Dr. Quinn«, sagte er mit einem Lächeln und streckte mir die Hand entgegen. »Nennen Sie mich Guy. Ich bin neu hier.«
    »Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Er drückte meine Hand so fest, dass ich das Gesicht verzog.
    »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sie noch so …
    ähm … jung sind.«
    »Tut mir Leid«, begann ich, brach aber gleich wieder ab.
    »Wie alt sollte ich denn Ihrer Meinung nach sein?«
    »Treffer!«, antwortete er, noch immer lächelnd. »Und Sie heißen Katherine – Kit abgekürzt. Das weiß ich von Dr. Hersh.«
    Früher sagten nur meine Freunde Kit zu mir. Die Kontrolle darüber war mir schon vor Jahren entglitten, aber ich zuckte immer noch leicht zusammen, wenn ein Fremder mich so nannte.
    »Wo ist er?«
    »Diese Richtung. Möchten Sie eine Tasse Tee oder Kaffee?«
    »Danke, aber ich bin ein wenig in Eile.«
    Er führte mich durch das Großraumbüro. An einem der Schreibtische blieb er kurz stehen und griff nach einer wie ein Rugbyball geformten Tasse, bei der der Deckel gekappt war wie bei einem Frühstücksei.
    »Meine Glückstasse«, erklärte er, während ich ihm durch eine Tür am hinteren Ende des Raums folgte. Vor dem Verhörraum blieb er stehen.
    »Mit wem habe ich es zu tun?«, fragte ich.
    »Einer Ratte namens Michael Doll.«
    »Und?«
    »Er hat sich auf dem Gelände einer Grundschule rumgetrieben.«
    »Hat er Kinder belästigt?«
    »Nicht direkt.«
    »Wieso ist er dann hier?«
    »Die Eltern dort haben eine Aktionsgruppe gegründet.
    Sie verteilen Handzettel. Dabei ist er ihnen aufgefallen, und die Situation wurde ein wenig unangenehm.«
    »Versuchen wir es doch mal anders herum: Wieso bin ich hier?«
    Furth wich meinem Blick aus. »Sie kennen sich doch mit solchen Sachen aus, oder? Man hat mir gesagt, Sie arbeiten in Market Hill.«
    »Hin und wieder, ja.« In der Tat teile ich meine Zeit auf zwischen Market Hill, einem Krankenhaus für geisteskranke Verbrecher, und der Welbeck-Klinik, die der Mittelklasse therapeutischen Beistand bietet.
    »Jedenfalls ist er ein seltsamer Typ. Er hat recht komisches Zeug geredet. Murmelt die ganze Zeit vor sich hin. Wir haben uns schon gefragt, ob er vielleicht schizophren ist oder so.«
    »Was wissen Sie über ihn?«
    Furth rümpfte die Nase, als könnte er den Gestank des Mannes durch die Tür riechen. »Neunundzwanzig Jahre alt. Tut nicht viel. Ein bisschen Taxifahren.«
    »Ist er früher schon mal wegen sexueller Belästigung aufgefallen?«
    »Nicht wirklich. Leichter Hang zum Exhibitionismus.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Finden Sie das alles nicht ein bisschen vage?«
    »Was, wenn er trotzdem gefährlich ist?«
    »Sie meinen, wenn er der Typ Mensch ist, der
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