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616 - Die Hoelle ist ueberall

Titel: 616 - Die Hoelle ist ueberall
Autoren: David Zurdo
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V ORSPIEL : E IN G EHEIMNIS , D AS N ICHT E INMAL D ER T OD A USLÖSCHEN K ANN
    Der Mann war am Ende seiner Kräfte. Die Sonne hatte ihm das Gesicht verbrannt, und seine Lippen waren vor Trocken-heit aufgesprungen. Er trug eine Tunika aus weißem Leinen, nunmehr zerrissen und völlig verschmutzt, seine Sandalen fielen auseinander, und seine Füße waren mit Blasen übersät. Mit letzter Kraft schleppte er sich weiter, ziellos. Ehe der Sandsturm losgebrochen war, hatte er geglaubt, mit seinen beinahe blinden Augen einige Felsformationen zu erkennen. Dort hatte er Schutz suchen wollen, doch er hatte die Felsen nicht mehr rechtzeitig erreicht. Er schützte sich, so gut er konnte, mit dem Stoff seiner Tunika, bis er schließlich ent-kräftet zu Boden sank und sich dem Tod und den Geiern überließ, die ihm bereits seit Tagen folgten. Er hätte nicht gedacht, dass er einmal so enden würde, nicht nachdem ihm das Glück so oft hold gewesen war.
    Der Wind wurde leiser, denn seine Ohren nahmen immer weniger Geräusche der Außenwelt wahr. Schließlich verklang auch der Schlag seines Herzens. Zwar konnte er es nicht mehr hören, doch sein Lebensorgan pumpte das zähflüssige Blut weiter durch die Adern. Seine Brust hob und senkte sich noch mit dem Atem. Der Sand hatte ihn beinahe vollständig begraben, aber er war noch nicht tot. Als der Sturm abklang und der Alte aus der Höhle ihn mitten auf der Düne fand, hing sein Leben nur noch an einem seidenen Faden. Mühe-voll schleppte der weißbärtige alte Einsiedler den jungen Mann bis zu seiner Höhle, wo er vor der unerbittlichen Son-ne geschützt war. Die Geier kreisten über ihm, in Erwartung des Augenblicks, in dem sie sich auf seinen reglosen Körper stürzen konnten. Doch einstweilen war ihnen ihre Beute entkommen.
    Der Greis wusch dem Mann das Gesicht und befeuchtete ihm die Lippen. Dann trug er eine Salbe aus Eidechsenfett, die er selbst hergestellt hatte, auf die verbrannten Hautpartien auf. Er steckte ihm übelriechende Heilkräuter in den Mund, ließ ihn ausruhen und wartete, bis der Unbekannte auf den Wirkstoff der Kräuter reagierte. Dann gab er ihm einige Tropfen und schließlich kleine Schlucke Wasser zu trinken. Abends gab er ihm ein wenig zu essen. Bei Anbruch der Morgendämmerung konnte der Junge mit schwacher Stimme reden.
    »Ich danke dir, dass du mich gerettet hast.«
    »Du hast Glück gehabt. Was hast du mitten in der Wüste gemacht, allein und ohne Reittier, mitten im Sturm?«
    »Ich bin geflohen …«
    »Geflohen? Wovor, oder vor wem?«
    »Vor meinem Herrn.«
    »Bist du ein Sklave oder ein freier Mann?«
    »Jetzt bin ich frei, davor war ich ein Sklave.«
    »Deshalb bist du geflohen?«
    »Nein. Ich bin geflohen, um dem Tod zu entgehen.«
    »Nun, den hättest du beinahe hier gefunden!«
    »Aber du hast mich gerettet.«
    »Weshalb hast du gefürchtet zu sterben, dort, wo du herkommst?«
    »Ich habe mich in die Lieblingssklavin meines Herrn verliebt.«
    »Die Liebe führt stets zu Verdruss. Ich liebte einst den lau-tersten aller Menschen, ich folgte ihm überallhin, ich war ihm treu ergeben … Und jetzt friste ich meinen Lebensabend in einer Höhle, fernab der Welt, vor allen verborgen, allein.«
    »Von wem sprichst du?«
    »Von einem Juden, der König sein wollte.«
    Der junge Mann schwieg eine Weile. Der Blick des hage-ren Alten mit dem langen Bart und der ausgedörrten Haut verlor sich im schwarzen Höhleninneren.
    »Warum lebst du hier so zurückgezogen, mitten im Nir-gendwo?«
    »Aus Feigheit. Vielleicht hätte ich meinem Leben ein Ende setzen sollen, wie ich gesagt hatte … Mich erhängen. Doch mir fehlt der Mut. Und mein Herz erträgt das Geheimnis, das ich hüte, nicht mehr.«
    »Wie heißt du, alter Mann?«
    »Seit so vielen Jahren hat mich niemand mehr nach mei-nem Namen gefragt, dass ich ihn beinahe vergessen hätte … Ich war der Lobpreis Gottes. Ich heiße Judas. Judas Ischariot.«

2
    Spanien, fünf Jahre später
    Getreidemeere breiteten ihr goldenes Tuch über die karge, monotone Landschaft der Provinz Ávila. Der schwarze SEAT Toledo wurde langsamer, als er an einem Friedhof vorbeifuhr, der ein wenig abseits des kleinen kastilischen Dorfes Horcajo de las Torres lag. Er war von einer weiß gekalkten Mauer umgeben, deren einzige Öffnung ein breites Tor mit einem Eisengitter war.
    Das Auto fuhr weiter bis ins Dorf und hielt auf dem Platz vor der Kirche. Dort stieg der mit einer eleganten Uniform bekleidete Fahrer aus und öffnete den
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