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Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)

Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
Autoren: Tibor Rode
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deutliches Zucken über. Langsam richtete ich mich auf und beugte mich über sie.
    »Julia«, flüsterte ich. »Kannst du mich hören?«
    Unvermittelt öffnete sie beide Augen und schaute mich an. Im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass es ihr wegen der künstlichen Beatmung nicht möglich war, mir zu antworten.
    »Blinzle mit den Augen, wenn du mich verstehen kannst?«, bat ich sie.
    Julia schloss und öffnete die Augen schnell hintereinander. Ein wohliges Gefühl durchströmte mich. Ich sah mein Gesicht, das sich in Julias Iris spiegelte. Ich glaubte, auf dem Grund ihrer wunderschönen braunen Augen viele Fragen erkennen zu können. Und dort war noch etwas zu sehen: der unbändige Wunsch nach Leben. Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn und streichelte zärtlich ihr Gesicht.
    Über ihre Wange lief eine Träne.

134
    Cassel, 1745
    Orffyreus schaute über die Landschaft vor ihm.
    Er stand hoch oben auf einem Gerüst neben der Mühle, an der er seit einem halben Jahr baute. Lange hatte er an der besonderen Konstruktion der Mühlenflügel gearbeitet. Deren Kanten hatte er so abgeflacht, dass sie sich unabhängig von der Windrichtung drehen sollten. Erschöpft legte er den Hammer neben sich. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen, und ein leichter Wind trug den Duft des Waldes zu ihm herüber.
    Der Geruch erinnerte ihn an jene Nacht, in der er von Schwanders Leuten im Labyrinth zurückgelassen worden war. Bis zum Anbruch des Tages war er durch die dunklen Gänge geirrt. Immer wieder war er im Kreis gelaufen und hatte sich Beine, Arme und Gesicht an den Hecken aufgeschrammt. Irgendwann, nach stundenlangem Umherirren in der Dunkelheit, übermannte ihn die Verzweiflung. Er weinte und schrie. Vor lauter Erschöpfung geriet er ins Straucheln. Er stürzte und blieb im nassen Gras liegen. In diesem Augenblick hörte er plötzlich Barbaras Stimme. Vorsichtig rappelte er sich auf und schritt der Stimme hinterher. Keine Hecke versperrte ihm den Weg. Immer schneller folgte er dem Klang der ihm wohlvertrauten Stimme, Ecke um Ecke, Gang um Gang – bis er endlich im Lichte des beginnenden Tages den Ausgang des Irrgartens erreichte. Zwei Tage später kam er nach Carlshaven zurück. Barbara war ohne sein Beisein beerdigt worden. Keiner seiner Söhne fragte ihn, warum er nicht an dem Leichenbegängnis teilgenommen hatte, und er zog es vor, darüber zu schweigen.
    Seit jenem Tag hatte er ein bescheidenes Leben geführt und war seinen Söhnen ein vorbildlicher Vater gewesen. Er hatte sich wieder auf das Handwerk des Mühlenbaus konzentriert, das er als junger Mann gelernt hatte. Mit dem Landgrafen war bereits vor vielen Jahren sein letzter Freund gestorben, und so verbrachte er seine Tage meist allein. Mit dem großen Vermögen, das er besaß und dessen Erwerb ihm viele Jahre lang so wichtig gewesen war, ging er sparsam um. Wann immer er Gelegenheit fand, spendete er für einen guten Zweck, wobei er darauf bedacht war, dass dies anonym geschah.
    Nun setzte er sich oben auf das Gerüst, das um die Mühle herum gebaut war, und blickte auf die untergehende Sonne. Er spürte eine große Müdigkeit. Ihm war, als hätte er seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen. Er nahm den Hammer, streckte die Hand aus und ließ ihn fallen. Das Werkzeug stürzte in die Tiefe. Im Gegensatz zu ihm ließ die Schwerkraft niemals nach. Sie war es auch gewesen, die sein Perpetuum mobile angetrieben hatte. Er musste lächeln bei dem Gedanken, dass es ihm gelungen war, die Schwerkraft zu beherrschen und sie seinem Willen zu unterwerfen.
    Er schloss die Augen und sah das Rad vor sich, wie es sich unaufhörlich drehte. Im Wind hörte er wieder das Fallen der Gewichte. Plötzlich tauchte neben dem Rad Barbara auf. Sie deutete auf das Rad und sprach zu ihm. Er streckte die Arme aus. Wieder rief Barbara ihm etwas zu. Der Wind blies jedoch so laut, dass es unmöglich war, sie zu verstehen. Er beugte sich vor, doch ihre Stimme war immer noch zu weit weg. Entschlossen stand er auf und machte einen großen Schritt auf sie zu.
    Unter sich spürte er eine große Leere.
    Etwas packte ihn und zog ihn mit unbändiger Kraft nach unten. Dann spürte er einen Stoß, und für einen kurzen Moment schien es, als breitete die Leere, die eben noch unter ihm war, sich in seinem Inneren aus. Die Leere verschwand, und plötzlich waren Barbara und das Rad ganz in seiner Nähe. Verwundert blickte er sie an – und endlich konnte er sie verstehen.
    »Schau, es dreht sich immer noch!«,
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