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Das Labyrinth der Zeit

Das Labyrinth der Zeit

Titel: Das Labyrinth der Zeit
Autoren: Lee Patrick
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    Erster Teil
    Skalar
    1
    In dem Backsteinhaus im Kolonialstil am hinteren Ende des Fairlane Court, einer Sackgasse, hatten noch niemals irgendwelche freundlichen Leute gewohnt. Was in Anbetracht der vielen Eigentümer, die sich seit seiner Errichtung im Jahr 1954 die Klinke in die Hand gegeben hatten, schon recht kurios war; annähernd zwanzig waren es im Lauf der Jahre gewesen. Zumindest an konventionellen Umgangsformen ließen sie es nicht fehlen: Alle hatten den Nachbarn grüßend zugenickt, den Vorgarten tadellos in Schuss gehalten und sich nicht dadurch unbeliebt gemacht, dass sie ihren Fernseher oder die Stereoanlage zu laut aufdrehten – sofern sie diese Geräte überhaupt benutzten. Bei den Bewohnern hatte es sich ausnahmslos um Männer und Frauen um die dreißig gehandelt, alleinstehend, kinderlos und ohne Haustiere. Alle hatten konservative Kleidung bevorzugt und fuhren in der Regel Limousinen in gedeckten Farben, dunkelgrün oder dunkelblau.
    Außerdem hatte keiner von ihnen je die Tür geöffnet, wenn bei ihnen geklingelt wurde, egal um welche Tageszeit. Keiner von ihnen hatte das Haus in der Adventszeit mit bunten Lichterketten geschmückt oder Kindern Süßigkeiten geschenkt, wenn sie an Halloween von Tür zu Tür zogen. Kein einziger Hausbewohner hatte je einen Nachbarn zu sich zum Abendessen eingeladen. Und obwohl das Haus alle zwei bis drei Jahre den Besitzer zu wechseln schien, hatte niemand in der Siedlung je ein «Zu verkaufen»-Schild im Vorgarten gesehen oder die Adresse im Verzeichnis eines Immobilienmaklers gefunden.
    Am merkwürdigsten waren immer die Tage, an denen das Haus neu bezogen wurde. Trotz der in der Regel schlichten Erscheinung der Bewohner hatten alle zum Transport ihrer Habe jeweils mindestens vier Umzugswagen benötigt; bei manchen waren es bis zu einem Dutzend gewesen. Jedes Mal wurden diese Fahrzeuge so dicht an die Garage herangefahren, dass unmöglich zu sehen war, was genau dort hinein- oder herausgeschafft wurde. Und es geschah immer spätabends, im Schutze der Dunkelheit. Immer.
    All dies war Neil Pruitt wohlbekannt, obwohl er kein Anwohner dieser Straße war und das Haus am heutigen Abend zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Es war ihm bekannt, weil er schon andere Häuser dieser Art kennengelernt hatte; und es gab viele Häuser dieser Sorte. Neunzehn weitere hier in Washington D.C. und noch mal zehn auf der anderen Seite des Flusses, in Langley. In und um New York City und Chicago befanden sich jeweils knapp fünfzig dieser Häuser und in den meisten Ballungszentren vergleichbarer Größe mindestens einige Dutzend. In und um Los Angeles gab es dreiundsiebzig.
    Pruitt steuerte seinen Wagen um die Zierbepflanzung im Wendehammer der Sackgasse herum, machte in der Garagenauffahrt halt und stieg aus. Es war ein feuchtkalter Oktoberabend, und ein intensiv herbstlicher Geruch hing in der Luft, nach nassem Laub, Kürbissen und Rauch. Vermutlich kam er von einem Haufen Laub, der in einem Garten ein paar Häuser weiter weg verbrannt worden war. Während er durch den Vorgarten auf die Haustür zuging, musterte Pruitt flüchtig die Nachbarhäuser. In dem großen, zweistöckigen Haus zur Linken brannte nur in einem einzigen Zimmer im Obergeschoss Licht, und das helle Gelächter, das durch die gekippten Fenster nach draußen drang, ließ darauf schließen, dass die Tochter des Hauses einige Freundinnen zu Gast hatte. Zur Rechten stand ein einstöckiges Terrassenhaus. Durch das Erkerfenster an der Vorderseite erspähte er ein Ehepaar auf einem Sofa, das gemeinsam vor einem großen Flachbildschirm saß und fernsah. Der Präsident war gerade zu sehen, live aus dem Oval Office.
    Das Backsteinhaus wirkte dagegen relativ unbelebt. Die meisten Fenster waren zwar schummrig erleuchtet, Bewegungen waren jedoch keine auszumachen. Pruitt stieg zur Veranda hinauf und steckte seinen Schlüssel ins Schloss. Herumzudrehen brauchte er ihn nicht – der Mechanismus ließ ein Piepsen vernehmen und klickte dann dreimal, wobei ein Computer mit dem Schlüssel interagierte. Nachdem sich der Riegel geöffnet hatte, stieß Pruitt die Haustür auf, die aus massivem, fünf Zentimeter dickem Stahl bestand, und trat von der steingepflasterten Veranda in den weiß gefliesten Flur. Im Gegensatz zu der Hausfassade, die im Lauf der Jahrzehnte mehrfach im Einklang mit dem sich wandelnden Zeitgeschmack modernisiert worden war, war in dem Haus selbst nie etwas verändert worden: Es war noch so
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