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Das Orakel vom Berge

Das Orakel vom Berge

Titel: Das Orakel vom Berge
Autoren: Phillip K. Dick
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Geschichtsbüchern konnte man lesen, wie die Deutschen untätig zugesehen hatten, während der Rest Europas Kolonialreiche aufgebaut hatte. Aber diesmal hatten sie gelernt.
    Und dann dachte er an Afrika und das Naziexperiment dort. Und das Blut stockte ihm in den Adern…
    Jene riesige leere Ruine.
    Und das Radio sagte: »… und wir müssen voll Stolz über die Betonung nachdenken, die wir auf die fundamentalen psychischen Bedürfnisse der Menschen gelegt haben, gleich, welche Position sie einnehmen, ihre rituellen Wünsche, die…«
    Frank schaltete ab. Dann, etwas ruhiger geworden, schaltete er es wieder ein.
    Du großer Gott auf dem Nachttopf, dachte er. Afrika. Die Gespenster toter Stämme. Ausgelöscht, um ein Land von – was eigentlich? wer wußte es? – zu schaffen. Vielleicht wußten es nicht einmal die Meisterarchitekten in Berlin.
    Legionen von Automaten, die bauten und sich mühten. Bauten? Die niederrissen. Monstren aus einem Museum der Paläontologie, damit beschäftigt, Tassen und Becher aus den Schädeln der Feinde zu machen. Und nützliche Utensilien aus den Beinknochen von Männern. Sehr sparsam, nicht nur daran zu denken, die Leute aufzuessen, die man nicht mochte, sondern sie aus ihren eigenen Schädeln zu essen. Die ersten Techniker! Prähistorische Menschen in sterilen weißen Laborkitteln in irgendeinem Universitätslabor in Berlin mit Experimenten beschäftigt, um festzustellen, wie man die Schädel, die Haut, die Ohren, das Fett anderer Menschen am besten ausnutzen konnte. Ja, Herr Doktor. Eine neue Verwendungsmöglichkeit für die große Zehe; sehen Sie doch, man kann das Gelenk für den Mechanismus eines Feuerzeuges gebrauchen. Wenn jetzt nur noch Herr Krupp es in Großserie herstellen kann.
    Es erschreckte ihn; förmlich übel wurde ihm bei dem Gedanken: jene uralten gigantischen Kannibalen, die jetzt wieder blühten und gediehen, aufs neue die Welt regierten. Eine Million Jahre haben wir dazu gebraucht, um ihnen zu entkommen, dachte Frank, und jetzt sind sie wieder da. Und nicht nur als Feind… nein, als Meister. »… können wir nur bedauern…«, sagte das Radio. Die Stimme der kleinen gelben Männer aus Tokio. Großer Gott, dachte Frank, und wir haben sie Affen genannt, diese zivilisierten, säbelbeinigen Burschen, die niemals dazu fähig waren, Gaskammern zu errichten. »… und wir haben auch in der Vergangenheit schon oft diese schreckliche Verschwendung von Menschen bedauert, die von fanatischem Streben verursacht wird und einen Großteil der Menschheit außerhalb der gesetzlichen Gemeinschaft stellt.« Ja, vom Gesetz hielten sie viel, diese Japaner… »Ich möchte zum Abschluß einen christlichen Heiligen zitieren, der allen vertraut ist: ›Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und litte dabei Schaden an seiner Seele.‹« Das Radio verstummte. Frank, der gerade seinen Schlips knotete, hielt ebenfalls inne. Das war die morgendliche Minute der Besinnung.
    Ich muß meinen Pakt mit ihnen hier machen, erkannte er. Schwarze Liste oder nicht; es wäre der Tod für mich, wenn ich das japanisch besetzte Territorium verließe und im Süden oder in Europa auftauchte – irgendwo im Reich.
    Ich muß mich mit dem alten Wyndam-Matson einigen.
    Auf seinem Bett sitzend, eine Tasse lauwarmen Tee neben sich, holte Frank sein I Ching . Er nahm die neunundvierzig Schafgarbenhalme aus dem Lederköcher. Und dann dachte er nach, bis er seine Gedanken unter Kontrolle und seine Fragen zurechtgelegt hatte.
    Und dann sagte er laut: »Auf welche Weise sollte ich Wyndam-Matson ansprechen, um eine vernünftige Einigung mit ihm zu erreichen?« Er schrieb die Frage auf die Tafel und wechselte dann die Halme von Hand zu Hand, bis er die erste Zeile, den Anfang, hatte. Eine Acht. Die Hälfte der vierundsechzig Hexagramme hob sich bereits weg. Er teilte die Halme und arbeitete an der zweiten Zeile. Geschickt, wie er war, brauchte er nicht lange, bis er alle sechs Zeilen hatte; das Hexagramm lag vor ihm, und er brauchte gar nicht in die Karte zu sehen, um es zu identifizieren. Er erkannte es sofort als Hexagramm fünfzehn. Ch’ien . Bescheidenheit. Ah. Die Niederen werden erhoben werden, die Hohen heruntergebracht, mächtige Familien gedemütigt; er brauchte gar nicht im Text nachzulesen – er wußte es auswendig. Ein gutes Omen. Das Orakel war günstig.
    Und dennoch war er etwas enttäuscht. Natürlich sollte er bescheiden sein. Schließlich hatte er keine Macht über den alten W-M.
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