Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Orakel vom Berge

Das Orakel vom Berge

Titel: Das Orakel vom Berge
Autoren: Phillip K. Dick
Vom Netzwerk:
sie ihm so nahe… Als besäße er sie immer noch. Dieser Geist um ihn, dieses Wesen mit seinem stets suchenden Gesichtsausdruck, das durch sein Zimmer huschte und etwas suchte, etwas, das nur Juliana kannte. Und das immer wieder in sein Bewußtsein eindrang, wenn er nach dem Orakel griff.
    Auf seinem Bett sitzend, von einsamer Unordnung umgeben und sich darauf vorbereitend, hinauszugehen und seinen Tag zu beginnen, dachte Frank Frink darüber nach, wer sonst noch in dieser riesigen komplizierten Stadt San Francisco in eben diesem Augenblick das Orakel befragte. Ob sie wohl alle den gleichen trübsinnigen Rat wie er bekamen? War der Tenor des Augenblicks ihnen ebenso abhold wie ihm?

2
     
     
    Mr. Nobusuke Tagomi befragte das Göttliche Fünfte Buch der konfuzianischen Weisheit, das taoistische Orakel, das seit Jahrhunderten das I Ching oder das Buch der Wandlungen genannt wurde. Gegen Mittag hatte er begonnen, über die Verabredung mit Mr. Childan nachzudenken, die in zwei Stunden fällig war.
    Seine Bürosuite im zwanzigsten Stockwerk des Nippon Times Gebäudes an der Taylorstreet blickte über die Bucht hinaus. Durch die Glaswand konnte er den Schiffen zusehen, die unter der Golden-Gate-Bridge hindurchzogen. Im Augenblick war gerade unmittelbar hinter Alcatraz ein Frachter zu sehen. Aber das interessierte Mr. Tagomi nicht. Er ging zur Wand, löste die Schnur und zog den Bambus - Vorhang herunter. Das große Büro wurde dunkler. Jetzt brauchte er die Augen nicht mehr zusammenzukneifen. So konnte er klarer denken. Es stand nicht in seiner Macht, so entschied er, seinem Geschäftspartner Freude zu bereiten. Gleichgültig, was Mr. Childan auch brachte, sein Geschäftsfreund würde nicht beeindruckt sein. Damit muß man sich abfinden, hatte er sich selbst gesagt. Aber immerhin können wir dafür sorgen, daß er sich nicht ärgert.
    Wir können das vermeiden, indem wir davon absehen, ihm ein unansehnliches Geschenk zu machen. Der Geschäftsfreund würde in Kürze auf dem Flughafen von San Francisco mit der neuen deutschen Rakete eintreffen, der Messerschmitt 9-E. Mr. Tagomi war nie in einem solchen Schiff gereist; wenn er Mr. Baynes sah, würde er so tun müssen, als sei er nicht beeindruckt, gleichgültig, wie groß die Rakete auch war. Und das mußte er jetzt üben. Er stand vor dem Spiegel an der Wand und arbeitete an einem Gesichtsausdruck, der gleichzeitig Gefaßtheit, einen Anflug von Langeweile und Selbstbewußtsein zeigte. Er beobachtete scharf. Ja, sie sind natürlich sehr laut, Mr. Baynes. Man kann nicht lesen. Aber dann dauert der Flug von Stockholm nach San Francisco auch nur fünfundvierzig Minuten. Und dann vielleicht ein Wort über deutsche Unglücksfälle? Sie haben es ja wahrscheinlich im Radio gehört. Dieser Absturz in Madagaskar. Ich muß sagen, die alten Propellerflugzeuge hatten schon etwas für sich. Wichtig, sich nicht auf ein politisches Thema einzulassen. Er kannte Mr. Baynes’ Ansichten über die Ereignisse des Tages nicht. Und doch konnten sich solche Themen ergeben. Mr. Baynes war als Schwede natürlich neutral. Und doch flog er mit der Lufthansa und nicht der SAS. Eigenartig… Mr. Baynes, ich habe gehört, Herr Bormann sei krank.
    Dieses Jahr soll angeblich ein neuer Reichskanzler gewählt werden? Nur ein Gerücht? Nun ja, hier am Pazifik hört man nicht viel über das Reich.
    In der Mappe auf seinem Schreibtisch lag ein Ausschnitt aus der New York Times, der sich mit einer Rede befaßte, die Mr. Baynes kürzlich gehalten hatte. Mr. Tagomi studierte den Artikel jetzt kritisch, beugte sich etwas vor, weil die Korrektur seiner Kontaktlinsen nicht ganz ausreichte. Die Rede befaßte sich mit der Notwendigkeit, erneut – zum achtundneunzigsten Mal – nach Wasservorkommen auf dem Mond zu suchen. »Unser nächster Nachbar im All und bis jetzt völlig nutzlos, wenn man von den militärischen Zwecken absieht.« Also an militärischen Dingen allein nicht interessiert, notierte Mr. Tagomi im Geiste.
    Dann beugte er sich vor und drückte den Knopf der Sprechanlage. »Miss Ephreikian, bringen Sie bitte Ihr Tonbandgerät.«
    Die Bürotür öffnete sich, und Miss Ephreikian, heute mit blauer Blume im Haar, erschien.
    »Veilchen«, meinte Mr. Tagomi. Früher einmal hatte er von Berufs wegen Blumen gezüchtet, zu Hause in Hokkaido.
    Miß Ephreikian, ein hochgewachsenes braunhaariges armenisches Mädchen, verbeugte sich.
    »Sind Sie bereit?« fragte Mr. Tagomi.
    »Ja, Mr. Tagomi.« Miss Ephreikian
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher