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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus
Autoren: Eric Berg
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Oft verbrachte sie eine ganze Stunde damit, die Nachbarskatzen zu rufen, und hatte sie Erfolg, standen einige Schalen voller Leckereien bereit. Leonie hatte ihnen Namen gegeben, da sie die richtigen Namen der Tiere nicht kannte. Sie unterschied zwischen Stammgästen und Gelegenheitsbesuchern, entsprechend verteilte sie ihre Fürsorge. Es kam vor, dass keine Katze erschien – es mochte dann am Wetter liegen oder an etwas, das Leonie nicht verstand.
    So war es auch am Morgen der Abreise. Leonie schloss die Terrassentür mit einem Knall, sammelte die Schälchen ein und warf sie in die Spüle. Sie ließ einen Strahl Warmwasser darüberlaufen und kümmerte sich dann nicht mehr darum.
    Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie ging zu ihrer Handtasche.
    Pistole, Schmerzmittel, Streichhölzer, Lexotanil. Gut!
    Der große Zeiger der Küchenuhr näherte sich der vollen Stunde. Noch zehn Minuten, sagte sie sich. Am Küchentisch trank sie einen letzten Schluck Kamillentee. Gedankenversunken griff sie zum Handy, drückte die Kurzwahltaste 1 und sprach Steffen eine Nachricht aufs Band.
    »Schade, dass ich dich nicht erreiche, vielleicht schläfst du noch. Also, ich fahre jetzt los. Eigentlich habe ich gar keine Lust. Ich weiß nicht, warum ich die Einladung angenommen habe, aber nun ist es zu spät. Am Dienstag bin ich wieder da. Ich freue mich auf dich und werde die ganze Zeit über an dich denken. Du kannst mich jederzeit anrufen, ja? Bis dann.«
    Sie hatte auf Punkt und Komma genau die Wahrheit gesagt, bis auf einen Halbsatz: Sie wusste sehr wohl, warum sie die Einladung angenommen hatte.
    Ihr Blick glitt über das Wachstuch mit dem Erdbeermuster und verharrte schließlich an dem einzigen Foto, das sie aus jener Zeit noch hatte, den Tagen mit Timo, Yasmin und Philipp. Genau genommen war es kein Foto mehr, sondern es waren nur noch Schnipsel eines Fotos, die sie in einem Schuhkarton gefunden und notdürftig zusammengesetzt hatte. Philipps Beine fehlten, aber die waren Leonie sowieso schnurz. Mit dem Finger berührte sie Timo. Sein lachendes Gesicht ließ Leonie ihre Nervosität für ein paar Sekunden vergessen.
    Kurz darauf ertönte die Türklingel.
    »Oh, Mama. Du bist es. Ich bin auf dem Sprung. Hättest du nicht anrufen können?«
    »Das habe ich, Liebes.« Ihre Stimme war warm, brüchig und sorgenvoll, die typische Mutterstimme einer sechsundsechzigjährigen, ergrauten Frau. »Aber du nimmst nicht ab und rufst auch nicht zurück. Was ist denn los?«
    »Muss denn immer gleich etwas sein, wenn ich mal nicht zurückrufe? Ich bin siebenunddreißig Jahre alt und springe nicht mehr, wenn du ›Hüpf‹ rufst. Außerdem habe ich gerade wirklich viel zu tun. Ich fahre nämlich weg.«
    »Weg?«
    »Ja, nach Hiddensee.«
    »Hiddensee?«
    »Ich bleibe vier Tage.«
    »Vier?«
    »Was bist du, ein Kakadu? Wiederhole nicht alles, was ich sage.«
    »Entschuldige, Liebes. Ich bin nur …«
    Der Blick von Leonies Mutter glitt über die Wohnungseinrichtung, so als suche sie nach weiteren Indizien für die plötzliche Anwandlung ihrer Tochter. Doch es hatte sich nichts verändert: Ikea-Möbel in gedeckten Farben, die Wände betupft mit einem Dutzend Stillleben, und auf allen Türen, allen Küchenschränken klebten gelbe Smileys, die ihr seltsamerweise immer ein bisschen Angst einjagten. Alles wie gehabt. Das Gleiche galt für Leonie. Sie trug ihre üblichen weiten Schlabberhosen und -blusen, unter denen sie ihre mollige Figur verbarg.
    »Verstehe mich bitte nicht falsch. Hiddensee im September ist sicherlich herrlich, und ich freue mich, dass du einen Kurzurlaub machst, aber … Als ich gestern im Kindergarten angerufen habe …«
    »Wieso hast du das getan?«, brauste Leonie auf.
    »Weil du nicht erreichbar warst. Jedenfalls hat man mir gesagt, dass du seit einer Woche nicht mehr dort arbeitest. Es hätte einen Vorfall gegeben …«
    »Das stimmt nicht. Ich arbeite noch dort. Es war nur ein Missverständnis. So, und jetzt entschuldige mich bitte. Du weißt, dass es mir gut geht, und damit hat sich’s für heute.«
    »Fährst du mit Steffen? Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen. Kommt doch mal zum Essen vorbei. Ich würde …«
    Leonie schob ihre Mutter mit sanfter Entschlossenheit zur Haustür. »Nein, ich fahre nicht mit Steffen. Philipp hat mich eingeladen. Timo kommt auch. Ich hole ihn und Yasmin in Berlin ab, dann fahren wir zur Ostsee.«
    »Philipp? Timo? Yasmin? Sind die von dieser komischen Gruppe, mit der du damals rumgezogen
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