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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus
Autoren: Eric Berg
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sich während meiner Abwesenheit mit unerledigten Aufgaben, will heißen mit Anklagen, füllte.
    Natürlich gab es auch Dinge jenseits der Arbeit – Einkäufe, Geburtstage, Telefonate mit Freunden, gelegentliche Treffen, Besuche bei Verwandten, Einladungen, Kinobesuche –, aber ich konnte sie immer seltener und kürzer genießen. Mein Kosmos verengte sich von Monat zu Monat, und übrig blieben die Texte, die Wörter, die Mörder, die Maschine, das große, verlangende Auge, in das ich schrieb.
    Ich wählte erneut. Vielleicht hatte ich bei dem Sohn mehr Glück als bei dem Witwer.
    »Nan.«
    »Guten Tag, mein Name ist Doro Kagel. Ich hätte gerne Herrn Yim Nan gesprochen.«
    »Am Apparat. Was kann ich für Sie tun, Frau Kagel?« Yim hatte eine sehr klare, milde und geduldige Stimme.
    Sie schien mir aus einer anderen Welt zu kommen, zu der ich seit einigen Jahren keinen Zutritt mehr hatte, der Welt des Wohlbehagens. Der Klang dieser Stimme schien zu sagen: Und woher kommst du?
    »Ich schreibe einen Zeitungsartikel über die Ereignisse von Hiddensee, die sich in Kürze zum zweiten Mal jähren, und hätte da ein paar Fragen. Wie Sie sich denken können, geht es dabei hauptsächlich um Ihre Mutter. Ich möchte dem Leser ein bisschen über Ihre Mutter erzählen, über sie als Mensch. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir Auskunft geben würden. Es wird auch nicht lange dauern.«
    »Das sollte es aber, meinen Sie nicht?«
    Ich zögerte, bevor ich antwortete: »Natürlich, Sie haben recht.« Innerhalb einer Sekunde gingen mir mehrere Filme durch den Kopf, in denen langmütige asiatische Lehrer ihren zumeist amerikanischen Kampfsportschülern als erste Lektion die Wichtigkeit von Ruhe und Konzentration, Bescheidenheit und Selbstreflexion beibrachten.
    »Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Hätten Sie Zeit für mich?«
    Nach weiteren schweigend verstrichenen Sekunden sagte Yim: »Ich will ehrlich sein. Eigentlich möchte ich Ihre Fragen nicht beantworten. Niemandes Fragen.«
    »Ich will auch ehrlich zu Ihnen sein. Mir würde es an Ihrer Stelle nicht anders gehen. Aber … Sehen Sie, es werden mehrere Artikel in den verschiedensten Zeitungen erscheinen, darunter auch meiner, so oder so, und ich möchte, dass Sie mitbestimmen, was darin stehen wird. Darum meine Anfrage.«
    Diesmal ließ Yim sich noch mehr Zeit mit der Antwort. »Einverstanden. Aber es ist gerade ungünstig.«
    »Ich verstehe. Wann soll ich Sie anrufen?«
    »Gar nicht.«
    »Ich verstehe«, sagte ich erneut, doch diesmal war es gelogen. »Ich gebe Ihnen meine Nummer.«
    »Mir wäre es lieber, wir würden uns treffen. Ich kann über die Dinge, die Sie mich vermutlich fragen werden, nicht am Telefon reden.«
    Ich hätte mich freuen sollen. Einem guten Journalisten ist eine persönliche Begegnung mit einem Interviewpartner allemal lieber, weil man den Befragten leichter dazu bringen kann, aus sich herauszugehen. Für mich bedeutete der Vorschlag jedoch eine zusätzliche zeitliche Belastung, dabei wollte ich diesen Artikel so schnell wie möglich geschrieben und abgegeben haben. So viel anderes wartete auf mich.
    »Sie müssten schon nach Berlin kommen, wenn Sie mit mir reden wollen«, sagte Yim.
    »Ich wohne ebenfalls in Berlin.«
    »Dann ist es ja kein Problem.«
    »Nein, kein Problem«, sagte ich und rieb mir die Stirn. »Passt es Ihnen noch heute Abend?«
    Erneut ließ er sich Zeit. »Einverstanden. Handjerystraße einhundertsechzehn. Das Restaurant heißt Sok sebai te . Kambodschanische Küche. Um einundzwanzig Uhr?«
    »Geht es nicht früher?«
    »Leider nicht.«
    »Gut, dann … Einundzwanzig Uhr ist mir recht.«
    Nachdem ich aufgelegt hatte, sah ich auf die Uhr. Mir blieben zweieinhalb Stunden; wenn ich eine schnelle Dusche, einen Garderobenwechsel und die Fahrzeit einrechnete, noch eineinhalb Stunden. Ich griff mir die oberste von geschätzten zwanzig Mappen der Fernkurs-Einsendungen, las einen Artikel mit dem Titel »Die Energiesparlampen-Lüge« und trank, während ich den Text korrigierte, einen Pott kalten Kaffees.

2
    Zwei Jahre zuvor, September 2010
    Pistole, Schmerzmittel, Streichhölzer, Lexotanil. Zum wiederholten Mal an diesem Morgen kontrollierte Leonie, ob sie am vorigen Tag alles in die Handtasche gepackt hatte. Am liebsten wäre sie an ihrem Küchentisch sitzen geblieben, weshalb sie bis zur allerletzten Minute vor der Abfahrt nach Hiddensee an den Ritualen des Alltags festhielt.
    Sie schnalzte ein paarmal mit der Zunge.
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