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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus
Autoren: Eric Berg
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anheimgegeben, der die schlechten Gedanken fortweht, so könnte man hoffen. Im Norden ragt ein hübscher Leuchtturm auf, im Süden existiert mit dem Vogelschutzgebiet, das nicht betreten werden darf, ein natürlicher Schatz. Einen sanfteren Tourismus gibt es nirgends. Autoverkehr ist auf Hiddensee verboten, nur ein Bus, ein Lieferwagen und die Notdienste dürfen mit mehr als zwei Pferdestärken fahren. Eintausenddreihundert Menschen leben hier über vier Ortschaften verteilt.
    Neuendorf im Süden liegt ein Stück abseits der drei anderen Dörfer. Es gibt dort keine Straßen, nur Wege, Pfade und Hausnummern. Die Nummer 37, ein relativ neuer und ungewöhnlicher, fast ganz aus Holz und Glas gefertigter Bau, nannten die einheimischen Inselbewohner schon vor den entsetzlichen Ereignissen des 5. Septembers 2010 das »Nebelhaus«.
    Ein guter Anfang. Aber leider nur ein Anfang, zudem hatte ich fast eine Stunde dafür gebraucht. Dieser Amoklauf, der sich in Kürze zum zweiten Mal jähren würde, sperrte sich gegen mich, war nur scheinbar mein Thema. Eine Tat lebt erst durch den Täter – hier jedoch gab es keinen Täter, jedenfalls keinen, der in Handschellen vor einem Kammergericht stand, den der Staatsanwalt beschuldigte, der Verteidiger in Schutz nahm, Zeugen belasteten, die Angehörigen der Opfer beschimpften und Psychologen beurteilten. Es gab kein Für und Wider, kein Gutachten, keine Erklärung, keine Rechtfertigung oder Entschuldigung und auch kein Urteil – und schon gar kein Monster. Wer nicht entweder flüchtig oder lebendig gefangen und in einen Käfig eingesperrt war, der taugte nicht zum Monster, sondern nur zum Gespenst, und geriet in Vergessenheit. Ohne Monster gab es niemanden zum Draufzeigen. Tote sind extrem schlechte Monster, Komapatienten noch weit schlechtere.
    Der Fall blieb rätselhaft und dunkel.
    Ich blätterte in meinen Notizen und studierte das Recherchematerial auf der Suche nach Inspirationen. Noch einmal durchforstete ich die Polizeiberichte und Statements der Staatsanwaltschaft Stralsund, die es schafften, das Grauen in die schrecklichste Sprache der Welt zu packen: die Sprache der Behörden. Bemüht, sich unanfechtbar korrekt auszudrücken, schafften es die Beamten, sich weit von den Menschen zu entfernen. Ich suchte nach einer Stellungnahme der Überlebenden, fand jedoch keine. Offenbar hatten sie sich gegenüber der Presse nicht geäußert – möglicherweise eine Folge der Sensationsberichterstattung. Auch die Informationen zum vermuteten Tathergang und zu den Zeugen waren spärlich.
    Ich leerte eine Tasse fast kalten Kaffees auf ex und legte die Mappe zur Seite. Schon seit Tagen wanderte die Blutnacht auf meinem Schreibtisch herum, kroch über die Stapel anstehender Arbeiten, über die Korrespondenz, Steuerunterlagen, Rechnungen, vorbei an einem Teller mit grünen Weintrauben und Zwetschgen, die den schweren Geruch des Spätsommers verströmten. Sie kroch über das Wohnzimmersofa und den Küchentisch bis auf die leere Seite meines Bettes und zurück auf den Schreibtisch. Der bestand aus einer Fülle von Anklagen, weil das Unerledigte dort immer das Erledigte überflügelte und mich am verwundbarsten Punkt traf: meinem schlechten Gewissen, nicht genug getan zu haben.
    Einige Stunden zuvor hatte ich die Mappe nach langer Suche hinter dem Monitor hervorgefischt. Ich konnte mir nicht erklären, wie sie dorthin gekommen war. Der Bildschirm war am Rand mit bunten Haftnotizen beklebt, einer Korona aus Terminen, Telefonnummern und Gedankenstützen, und für gewöhnlich landete hinter dem Bildschirm nur Staub. Es war, als wollte diese Arbeit sich mir entziehen. Ständig fand ich etwas Dringenderes zu tun, andere Artikel, andere Recherchen, so auch an diesem Nachmittag.
    Ich zog einen Schnellhefter von einem Stapel, der aus Einsendungen von Journalismus-Schülern eines Anbieters von Fernkursen bestand und die Höhe einer dreibändigen Enzyklopädie erreicht hatte. Um mein dürftiges Honorar als freie Journalistin aufzubessern, hatte ich diesen kleinen Nebenjob als Fernlehrerin angenommen, ohne glücklich damit zu werden. Er kostete Zeit, die ich nicht hatte, verlangte Konzentration, die ich mir mühsam abrang, und brachte gerade so viel Geld ein, dass es für die monatliche Zahlung an Jonas reichte, meinen Sohn, der in Marburg studierte. Sein lachendes Gesicht überstrahlte meinen Schreibtisch, der von Bürden und Morden überquoll.
    Zwei Stunden lang reduzierte ich den Stapel auf zwei Drittel
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