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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus
Autoren: Eric Berg
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seiner ursprünglichen Höhe, redigierte und bewertete Artikel der Journalismus-Schüler, die sich mit dem unaufhaltsamen Niedergang der Woll- und Strickläden, dem Verfall der Abwasserkanäle in deutschen Großstädten, einem Vergleich internationaler Biere, der wirtschaftlichen Bedeutung der Schwarzarbeit und dem Aufstieg Berlins als Modestadt beschäftigten. Sonst passierte so gut wie nichts in diesen zwei Stunden, außer dass sich die Schatten auf dem Schreibtisch verlängerten; Zacken und Punkte, die in Zeitlupe über Papiere schwebten. Drei Tassen Kaffee erkalteten nacheinander, bevor ich sie an die Lippen führte.
    Um kurz vor sechs Uhr stieß ich versehentlich die Tasse um. Der Inhalt floss über die Unterlagen zur Blutnacht, tränkte sie mit kalter schwarzbrauner Flüssigkeit und hinterließ nach dem Abwischen auf fast jedem Blatt eine zweifarbige Landkarte mit starken Konturen im unteren Teil und inselhaften Tupfern im oberen. Gänzlich verschont geblieben war nur die Telefonliste mit den Überlebenden der Blutnacht, den Verwandten und Lebenspartnern der Opfer, Hiddenseer Anwohnern, Zeugen, dem Krankenhaus, in dem die Komapatientin lag, sowie den Namen und Kontaktdaten von Psychologen, ermittelnden Polizeibeamten und Staatsanwälten.
    Ich musste mich ans Werk machen. Es war achtzehn Uhr sieben, und in genau drei Wochen sollte der Artikel fertig auf dem Tisch des Chefredakteurs der Regionalzeitung liegen.
    Ich holte mir einen neuen Pott heißen Kaffees aus der Küche, massierte mir kurz den Nacken, griff nach dem Handy und starrte unschlüssig auf die Liste. Wen sollte ich zuerst anrufen? Einen der Überlebenden? Eine Angehörige?
    Normalerweise begegnete ich den unmittelbar Betroffenen einer Straftat im Zuge des Gerichtsverfahrens. Das Terrain dort war einfacher, die Leute waren auf Fragen eingestellt, ja, sie freuten sich geradezu, gegen den Täter auszusagen und den Gerichtsreportern ihre Abscheu vor dem Monster in den Block zu diktieren.
    Ich wählte eine der Nummern.
    »Viseth Nan«, ertönte die hohe Stimme eines schon älteren Mannes.
    »Guten Tag, Herr Nan. Mein Name ist Doro Kagel. Ich schreibe einen seriösen Artikel über das, was vor zwei Jahren auf Hiddensee passiert ist. Darin soll es auch um Ihre Frau gehen. Sie war, wenn ich richtig informiert bin, die Haushälterin oder Reinemachefrau im Haus des Ehepaares Lothringer und Nachtmann, stimmt das?«
    Keine Reaktion. Atmen.
    »Sind Sie noch dran, Herr Nan?«
    Keine Reaktion. Atmen.
    Natürlich hatte ich schon mal von jenen Spinnern gehört, die einen anriefen und durch bloßes Atmen verängstigten. Dass auch Angerufene dieses Verhalten an den Tag legten, war mir neu.
    »Ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen schwerfällt, über die schrecklichen Ereignisse zu sprechen, von denen ja auch Sie betroffen waren. Ich kann Ihnen versichern, dass ich nur das über Ihre Frau schreiben werde, was Sie ausdrücklich genehmigen.«
    Wieder nur Atmen.
    »Würden Sie mir einige wenige Fragen gestatten?«
    Ein Knacken in der Leitung. Herr Nan hatte aufgelegt.
    Journalisten sind wie Taxifahrer, sie wundern sich über gar nichts mehr. Daher hakte ich das Gespräch, das keines war, unter Skurrilitäten ab. Trotzdem: ein motivierender Beginn sah anders aus. Es war Viertel nach sechs, mein Rücken schmerzte, und die Augusthitze, die nicht weichen wollte und meine Wohnung wie eine feuchte Blase umfing, ließ mein Kleid an meinem Körper kleben wie eine zweite, eine synthetische Haut. Ich kam mir vor wie in Frischhaltefolie gewickelt. Fruchtfliegen stiegen von dem Obstteller auf, schwirrten um meine Haare herum. Ich sehnte mich nach Nacktheit, nach einer kalten Dusche. Auf einem der oberen Balkone des Altbaus, in dem ich wohnte, fanden sich Freunde zusammen, um zu grillen und zu feiern. So sollte ein Sommertag ausklingen, mit frisch gewaschenen, duftenden Haaren, einem kurzen, nackten Räkeln auf dem Bett, mit einem leichten Kleid, einem eiskalten Getränk, mit Lachen.
    Doch ich war unfähig, dieses natürliche Verlangen länger als einige Sekunden zuzulassen. Der Schreibtisch war stärker. Seine magische Anziehungskraft fing mich immer wieder ein, beschleunigte mich, gab mir das gute Gefühl von Erfolg, ebenso davon, Hindernisse zu überwinden und böse Dinge wie Arbeit zu vernichten. Die Geschwindigkeit, mit der ich Aufgaben erledigte, berauschte mich. Entfernte ich mich zu lange vom Schreibtisch, fühlte ich mich seltsam nutzlos und verloren, da ich wusste, dass er
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