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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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Fendt und Frau Mänz. Sozialtext, wie es die traditionelle Frauenrolle vorschreibt; die Aufzeichnungen im Merkbuch dienen, wie gesagt, als Gedächtnishilfe, wenn Mutter es noch einmal ganz genau erzählen will, samt allen Kalenderdaten (was nie notwendig wird).

    Mutter fährt fort mit den Aufzeichnungen, mittags nach Kassel gefahren; ein paar Einkäufe gemacht; Garten, etwas gemäht; staubgesaugt; Anruf Erika; Kaffee mit Frau Völker, Frau Ulm und Corinna, gemeinsamer Spaziergang.
    Das Alltägliche, Triviale in dieser Form aufzuzeichnen bietet Trost. Es existiert noch, das Alltägliche; das drohende Unglück bringt es nicht zum Verschwinden. Und Mutter versinkt nicht in einer Depression, die stumm macht.

    Mutter beginnt, ihren Aufzeichnungen ein System zu geben: Ihre Besuche in Philippsthal erhalten in roter Kugelschreiberschrift Nummern in arabischen Zahlen; die Einzeltage nummeriert sie lateinisch. Das Vorbild von Vaters Akten und ihrer Beschriftung ist mit Händen zu greifen – das Vorbild für diese Geschichte, die zu Vaters Tod führt.
    Sie konzipiert die Geschichte von ihrem Ende her. Die Anzahl der Besuche, der Tage, die jeder Besuch dauert, ist begrenzt. Deshalb möchte man sie zählen.

    Nach Philippsthal gefahren; 1 Stunde, 40 Minuten. Vater erfreut! Wetter! Bisschen umhergelaufen
    Mich über Filmtransport geärgert. Mit Vater auf dem Balkon. Wetter! Viele Aufnahmen gemacht. Oberhalb von Philippsthal spazieren gegangen. Im Park. Vater an Segelclub-Mitglieder erinnert, mit Erfolg
    Durch den alten Park gegangen. An der Werra entlang. Beim Vater gesessen. Friedhof. Im Kaffee Zollhaus Sahne geholt. Beim Vater gesessen. Sehr schwül, abends Gewitter
    Alle vier Tage fast klar. Zur Bank. Gießkännchen gekauft. Wagenpapiere vermisst!
    Fräulein Helms besucht. Auf dem Balkon, sehr schwül. Heimfahrt halb eins. Verfahren. Doch recht abgeschlagen. Gleich ins Bett. Anruf Michael

    Autofahrt nach Philippsthal bei sehr schönem Wetter. Im Park gesessen und spazieren gegangen. Vater gut gegessen, sehr hinfällig. Zwei Tage Bett, sehr schwacher Puls
    Sehr neblig. Gedeck gekauft. Möbel poliert. Wetter wunderbar. Vater teilnahmslos, abends nichts gegessen. Abendspaziergang
    10.30 Uhr Abfahrt. Bei Tante zu Mittag gegessen. Im Garten. Frau Fendt und Karl-Martin. Zwetschgenernte

    Fahrt nach Philippsthal, 1 ½ Stunden. Gut zu fahren. Vater nicht gut
    Regen. 1 Stunde im regennassen Park. Liege wurde geliefert, enttäuschend das Muster. Vater vormittags besser als nachmittags. Teppich bestellt
    Abfahrt von Philippsthal, wunderbare Fahrt. Äpfel geerntet. Telephonat Michael

    Nach Philippsthal. Schöner Herbstmorgen. Vater sehr unruhig, Neurocil. Abends plötzlich 38,6 Grad Fieber. Dr. Ludwig: Agonie!
    Tiefe Bewusstlosigkeit! Herz und Puls kräftig. 2 Mal Telefonat mit Michael. Papiere doch im Hause. Im Zimmer geschlafen
    Michael angerufen, keine Verbindung mit Tante. Bewusstsein wiedererlangt. Nur Flüssigkeit. Befinden sehr schlecht. Komplikationen. Im Zimmer geschlafen. Pullover gekauft
    Tiefe Bewusstlosigkeit. 2 Mal Anruf Tante. Im Zimmer geschlafen. Nur mit Wasser den Mund befeuchtet
    Tiefe Bewusstlosigkeit
    4.55 Uhr tot. Heimfahrt und Überführung. Friedhofskapelle. Anzeigen bestellt, geschrieben und zur Post gebracht. Eingekauft. Telefonat Michael, Frau Mänz

    Das hat Schönheit, richtige Schönheit, könnte ein Dichter schwärmen, dass Mutter den Tod von Vater für 4 Uhr 55 am 9. November 1973 in den Kalender schreibt, den die Firma, deren Angestellter Vater so lange war, an ihre aktiven ebenso wie ihre ehemaligen Mitarbeiter verteilt und der, in der Gestalt von Adressen und Vordrucken und Tabellen, metonymisch die Existenz darstellt, die Vater nun endgültig hinter sich hat. Einige Tage vor seinem Tod macht Mutter in dem Kalender eine dieser kleinen Rechnungen auf, mit denen Vater in seinen Merkbüchern – wenn man sie literarisch betrachtet – eine persönlichere Form von Autobiografie betrieb.

    Der 9. November, an dem Vater starb, bildete ein bedeutendes Kalenderdatum in seinem Leben. Am 9. November 1918 dankte Kaiser Wilhelm II ., für dessen Deutsches Reich Vater begeistert in den Krieg zog, ab, und Philipp Scheidemann rief die Republik aus.
    Am 9. November 1923 erklärt Adolf Hitler in München die bayerische Regierung und die Regierung des Reiches für abgesetzt und sich selbst zum Reichskanzler. Am 9. November 1938 zerstören in der sarkastisch so genannten Reichskristallnacht organisierte Mobs Synagogen,
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