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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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seinem Motorrad dem Lincoln folgte.« 29

    Die Ermordung des Präsidenten Kennedy galt vielen als Urkatastrophe der sechziger Jahre, als Startschuss für das große Tanzvergnügen der Siebziger.
    Noch Wochen später brach Mutter in Tränen aus, wenn es ihr einfiel, dass man den Präsidenten Kennedy erschossen hatte.
    Das neue Kapitel der Geschichte, mit dem die Nachkriegszeit enden sollte, riss plötzlich mit Schrecken ab. Zwar trat Vizepräsident Lyndon Johnson verfassungsgemäß die Nachfolge an, aber der Präsident heißt bis in alle Ewigkeit Kennedy; Johnson ist ein Usurpator, wie man schon an seiner mürben Visage erkennt, wenn man sie mit dem Gesicht von Kennedy vergleicht.
    Statt den Krieg in Vietnam klug und umsichtig zu beenden, steigerte der Präsident Johnson seine Brutalität. Am 5. Juni 1968 wird in Los Angeles auf Robert Kennedy geschossen, um seine Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zu verhindern – er erliegt seinen Verletzungen einen Tag später; am 4. April hatte man in Memphis, Tennessee, bereits Martin Luther King erschossen, den Helden und Heiligen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung.
    Am 2. Juni 1967 erschießt in Westberlin ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg, der an einer Demonstration gegen den Schah von Persien teilnahm. Am 11. April 1968 schießt man auf dem Kurfürstendamm den Studentenführer Rudi Dutschke in den Kopf; elf Jahre später stirbt er in Aarhus, Dänemark an den Folgen der Verletzungen.
    Und in den Siebzigern dauerte das Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, noch manches Sündenjährchen länger. Das Töten als politische Handlung war zurückgekehrt.
    Für 1967 ist Mutters Merkbuch überliefert, grünes Plastik, nur flüchtig als Leder inszeniert. Kein Werbegeschenk; vielmehr, wie auf der vorderen Innenseite ein kleiner Aufkleber mitteilt, in der Buchhandlung J. Hoefs, Bürobedarf, Müllerstr. 98, keine Ortsangabe, gekauft.

    Die Buchhandlung J. Hoefs, die zugleich Bürobedarf anbietet, rechnet nicht damit, dass ihre Kunden die erworbenen Produkte über die Grenzen unserer kleinen Stadt hinaustragen. Hier kennt jeder die Buchhandlung J. Hoefs – draußen braucht niemand sie zu kennen. Ebenso verfuhr Baur & Horn – noch kein Gedanke an Globalisierung.

    Der Steckbrief ist Persönliche Notizen überschrieben, und Mutter trug ihren Namen und ihre Adresse ein; außerdem das Bankkonto; aber keine Telefonnummer. Wieder hat sich der Straßenname geändert.

    Mutter und Vater waren in das große Haus am Markt gezogen, um die Vereinsamungsgefühle von Tante zu mildern. Und der Mietpreis lag weit niedriger als bei der Wohnung im Tal – das Geld war wieder recht knapp; jeden Monat erhielt der Sohn ein Fixum für das Studieren.

    Michael in Utersum
    Michael Abfahrt Utersum
    Michael aus Göttingen
    Michael Abfahrt Göttingen 8.15 Uhr

    Mutter führt eine Chronik ihres persönlichen Lebens, wobei sie alle Gefühle und Urteile erspart.

    Tante Friedel zum Tee. Besuch Margrit und Antja. Kaffeequatsch bei Frau Mänz. Kurt, Margrit, Reinhard, Antja zu Besuch.

    Sie möchte das Urteil nicht völlig unterdrücken, das Urteil über die gemeinsamen Nachmittage, -quatsch statt -klatsch, mit ihren Freundinnen. Statt ein gutes Buch zu lesen; statt den Familienbesuch zu organisieren und zu genießen.

    Eva Kahn verunglückt. Ich gen Göttingen 18.15 Uhr. Sonnig. Bad geschlossen. Spaziergang in Geismar. Film Yeah Yeah Yeah.

    Sie wird in diesem Jahr 59. Sie arbeitet sich ein in die explodierende Jugendkultur, an der ihr Sohn teilhat. Der erste Film mit den Beatles, Regie Richard Lester, eine groteske Reportage über das Leben der Band.
    Bilder aus Großbritannien, an dem die Liebe des Sohnes hängt; wo er weit entfernt von Mutter weilte, zweimal.

    Regen. Mittagessen Neue Börse. Abfahrt 5.59 Uhr. Kaffeequatsch. Abfahrt nach Regensburg 10 Uhr. Margrit und Declan abgefahren. Donauspaziergang. Mit Antja und Toby gespielt. Antja Kindergarten. Dom. Mit Vater zu Dr. Langenau. Nachmittags Schusterkinder. Sonnig. Vater von Röttgen abgeholt. Frühstück in der Stadt. Kindergeburtstag. St. Jakob. Donauleinpfad. Kornmarkt. Sonnig. Vater und ich Stadt. Gassen, Rathaus. Antja abgeholt. Wer hat Angst vor Virginia Woolf?

    Ein wüster Film aus den sechziger Jahren, ein Film über ein wüstes Ehepaar, das Elizabeth Taylor und Richard Burton mühelos gaben. Das Paar, das wüst aufeinander losgeht, kam in Mode.
    Aber mit Vater kann man unmöglich Elizabeth Taylor und Richard Burton spielen. Er
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