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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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wird 74 Jahre alt am 26. November 1967; er muss Dr. Langenau aufsuchen; er wird von Röttgen abgeholt. Wohin?
    Man versteht: Mutter und Vater hüten in Regensburg ein Kind namens Antja, dessen Eltern zusammen verreisen müssen. Während das Mädchen den Kindergarten besucht, besichtigen Mutter und Vater die Sehenswürdigkeiten der Stadt, wie Mutter verzeichnet, Dom, St. Jakob, Kornmarkt – so fotografieren Touristen, was an einem Ort berühmt ist, eigenhändig, obwohl es in Postkarten breit vorliegt und zu kaufen ist.
    Es fällt auf, wie Mutter ich schreibt, Vater und ich Stadt. Es wirkt ungeschickt, ungewohnt, als schriebe Mutter nur selten ich. Konventionell würde es bei diesem Typus von Aufzeichnung erspart, mit Vater in der Stadt würde genügen. Wer sonst als ich? – Die touristischen Fotografien der allbekannten Sehenswürdigkeiten enthalten ja gleichfalls ein solches ungewohntes Ich. Ich war hier (respektive dort). Man gewinnt den Eindruck, dass Mutter unbedingt etwas Persönliches zu schreiben vermeiden wollte. Strikte Sachlichkeit – das Vorbild von Vaters Notizkalendern.

    Und so geht es weiter mit unpersönlichen Aufzeichnungen über die persönlichen Beziehungen. Der Sohn aus Göttingen. Kaffeequatsch. Sperling vom Dörnberg. Besuch Ruder Zimmermann mit Frau. Abfahrt Sperling. Besuch bei Frau Mänz. Einladung Fendt, Melsungen. Haddi mit Mann auf Hochzeitsreise bei uns. Kurt, Margrit, Antja, Reinhard mit Begleitung zu Besuch. Vater und Mutter und Sohn nach Nieste.
    Wobei Mutter nicht Mutter schreibt, sondern ihren Vornamen.

    Maler. Eingeräumt. Erstmalig gesonnt. Gartenarbeit. Bei Frau Mänz. Gartenarbeit. P. G. Hübsch aus Marburg. Die Schwalben sind da. Tod Adenauers.

    Das liest sich endlich wie richtig geschrieben, wie geschriebener Text. Die Schwalben sind da, Tod Adenauers – wobei der Toposforscher die ehrwürdige Verknüpfung des Vogels mit der Seele des Toten erkennt. Ein Vogel trägt sie davon . . . Wenn Fredo Corleone auf dem Lake Tahoe erschossen wird, hört man einen Vogelschrei, und das Tier fliegt weg.
    Aber hier trägt der Vogel den Tod herbei, statt die Seele davon.

    Michael nach Göttingen 10.50 Uhr. Begräbnis Adenauers. Gespräch Prof. H. P. Bahrdt. Kaffeequatsch. Rasen gemäht. Tante zurück aus Kissingen. Tante zum Frühstück. Kaffeequatsch bei mir. Schwalbennest besetzt.
    Michael und Sylvia aus Göttingen. Kurt, Michael, Vater, Sylvia, ich gesegelt, Edersee. Michael und Sylvia abgefahren. Gartenarbeit.

    Auf vielen Datumsfeldern im Mai krakelt Mutter aus, was sie zuvor geschrieben hatte. Man kann es nicht entziffern. Aber am 22. Mai ist eine Visite bei Frau Dr. Koelle verzeichnet: Bei dem Ausgekritzelten könnte es sich um Gesundheitsprobleme handeln.
    Und Mutter wollte, wenn sie das Merkbuch zur Rekapitulation ihrer Erinnerungen verwendet (wie ein Fotoalbum), mit diesen Krankheitstagen keinesfalls mehr befasst werden.
    Die traditionelle Frauenrolle; das Weib sorgt für die Verschönerung des Lebens.

    Nein, man muss das nicht durchlesen. Der implizite Leser, das bist nicht du, es ist die Autorin. For her eyes only.
    Das Fotoalbum, das nur dem etwas sagt, der alles Fotografierte schon gut kennt.
    Am 17. Juli, Montag, bricht Mutter um 4.50 Uhr in der Frühe zu einer Reise auf, deren Stationen sie Tag für Tag genau vermerkt. Vater ist nicht dabei – weil er irgendwo arbeitet? Weil er in Helgoland weilt? Weil er für das Reisen schon zu verwirrt ist? Nach Hause zurückgekehrt, könnte sie ihm anhand des Notizkalenders genau von der Reise erzählen. Ebenso dem Sohn, versteht sich.

    Freiburg. Höllental. Titisee. Donaueschingen. Schaffhausen, Hotel Bahnhof, Rheinfall angestrahlt. Zürich. Anny getroffen. Riederpark, Meise usw. Maria Einsiedeln. Vierwaldstättersee. Brunnen, Hotel Elite. Photographiert. Axenstraße. Altdorf. Wassen. Sustenpass! Photographiert. Gadmen. Innertkirchen. Aareschlucht! Brienz. Interlaken, Hotel Hirschen, sehr früh geschlafen.

    Es beginnt ihnen gutzugehen, den Rentnern – wobei Mutter genoss, was Vater erwirtschaftet hatte (wenig später begann er sie in der demenztypischen Beraubungs- und Verarmungsangst anzuklagen, dass sie ihm sein Geld wegnehme).
    Der Aufbau der Bundesrepublik hat sich gelohnt. Dem Sohn das Studium zu finanzieren, das schließt nicht aus, dass Mutter eine Reise in die Schweiz unternimmt. Eine Busreise, wie sie zahlreiche Fuhrbetriebe in unserer kleinen Stadt anbieten und wie sie zu einem fixen Genre des Kulturkonsums sich
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