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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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entwickelte, des Kulturkonsums ungeübter, aber ambitionierter Kulturkonsumenten. Was die Kulturkritik stachelte: die Überanstrengung der Busfahrer; die Überanstrengung der Touristen durch allzu viele kulturelle Reize. Der Tourismus steigert die Reizüberflutung, die eine der Todsünden dieser unserer Zeit ist . . .
    Es fällt auf, dass Mutter von ihrer sorgfältigen Kurrentschrift übergeht zu einer ebenso sorgfältig gezeichneten Druckschrift. Das Vorbild von Vaters Akten wirkt sich anhaltend aus. Aufzeichnungen in Druckschrift machen das Merkbuch offiziös; wir kennen das schon aus den Übungen des Sohnes.
    Oder anders: Mutter möchte gedruckt sein – möchte mit dem Notizkalender einem gedruckten Buch so nahe wie möglich kommen. Diese Verführungskraft des Kalenders haben wir schon am Sohn kennengelernt, der 1956 gleich mit einem Weltall-Roman anfing, die Merkurianer haben angegriffen . . .

    In Kurrentschrift verfasst Mutter für den 5. Oktober noch einmal eine Einkaufs- und Besorgungsliste, wovon dies Merkbuch im Übrigen ganz frei ist. Sie verzichtet auf Preisangaben.

    Krankenkasse
    Hut
    Bügelbrettauflage
    tiefe Teller
    Porzellan-Ei
    Post
    Besteckkasten 35 × 46

    Die Schwalben sind da, Tod Adenauers, das las sich tatsächlich als Text. Während die Einkaufsliste wieder keine Geschichte ergeben will. Allenfalls eine Collage heterogener Elemente, der du selber Poesie abgewinnen musst, wenn das Spiel, irgendwie sei das alles Literatur, fortgesetzt werden soll. Das schaffen wir! Mutter pflegte an so etwas, die Einkaufsliste als Poesie betrachtet, Freude zu haben; sie hängte die Wäsche so zum Trocknen auf, dass sich Farbmuster und Sequenzen ergaben. Ästhetische Übungen aus der Zeit schwerer Armut . . .
    Von der Krankenkasse in den Hut, aus dem Hut auf die Bügelbrettauflage, von der Bügelbrettauflage in den tiefen Teller und so fort.

    Die Liste als solche ist ein literarisches Genre – das älteste, sagen die Historiker. »Ich liebe es, Listen anzufertigen«, schreibt ein Dichter, »Listen aller Art, die dann einige Zeit in der Schreibtischlade liegen, bis ich sie schließlich wegwerfe und durch neue ersetze. Ich liebe es, zu zitieren, Listen anzufertigen, allerlei Vorbereitungen zum Schreiben zu treffen, das Schreiben selbst kommt erst an vierter Stelle dieser Liste, frühestens.« 30 Die letzten Seiten des Adressenteils in ihrem Merkbuch für 1967 verwendet Mutter für eine Liste mit den Bildtiteln: Fotos aus dem Berlin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die, wie sie vermerkt, in der Landesbildstelle zu finden sind, der die Witwe des Fotografen vor 15 Jahren sein Archiv überlassen habe.

    Am Alexanderplatz. Passanten in der Königstraße, 1898
    Stettiner Bahnhof. Gepäckabfertigung, 1898
    Reisende am Stettiner Bahnhof, 1898
    Potsdamer Straße, von der Potsdamer Brücke aus, 1907
    Am Landwehrkanal (von der Heydtbrücke), 1900, 2 ×
    Herkulesbrücke am Landwehrkanal, 1900
    Am Landwehrkanal. Gemüsekahn auf dem Landwehrkanal, im Hintergrund das Lützowufer
    Waldemar Titzenthaler, geboren 1869 in Laibach, gestorben 1937 in Berlin, war ein Sohn des großherzoglich oldenburgischen Hofphotographen Franz Titzenthaler, der aus Leipzig stammte und 1900 in Berlin starb. Atelier Leipziger Str. 105, Friedrichstr. 242.

    Und so tauschen die Listen untereinander Blicke, Liebesblicke, Gemüsekahn auf dem Landwehrkanal, in Thun Bergkristall gekauft, Kaffeequatsch bei Frau Mänz, Atelier Leipziger Straße.
    Waldemar Titzenthaler, ein Name, der den Sohn in der Kindheit stets kichern machte, hieß ein Kollege des Vaters von Mutter, mit dem er freundschaftlichen Umgang pflegte. Beide also Fotografen – und Mutter lernte als junges Ding einen Beruf in diesem Umkreis, Retuscheurin, in einer renommierten Fachschule, die ein Wohltäter extra für die Berufsausbildung von Mädchen gegründet hatte, im Lette-Haus.
    Also ein Akt von Vaterkult, wenn Mutter in ihrem Notizkalender Nachrichten über Waldemar Titzenthaler niederschreibt. Wir haben keinen Anhaltspunkt, dass sie zwischenzeitlich in Berlin war und dort in der Landesbildstelle die Titzenthaler-Fotografien angeschaut hätte; so sind die Eintragungen rätselhaft. Weshalb verfällt Mutter plötzlich auf den Vaterkult?

    Aber das wären alles nur die Vorarbeiten zum Schreiben.
    Mutter schrieb zeitlebens gern Briefe. Gewiss bediente sie sich dabei immer wieder aus ihren Notizkalendern. Was sie in Regensburg erlebten, das Kind Antja hütend, die Gartenarbeit,
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