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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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Michael
    Haloperidol abgesetzt. Familienalben angesehen. Kaum geschlafen in der Nacht
    Kui Krankenbesuch. Abends Dr. Schröder
    Neurocil 3 Tabletten. Nicht ansprechbar. 10 Uhr ins Bett, ruhige Nacht
    Michael Abfahrt 10.50 Uhr. Tagsüber nicht geschlafen. 3 Neurocil. Erkennt mich nicht. Anruf Michael
    Relativ guter Tag. Erkennt mich nicht. Telefonat Michael
    Ziemlich giftig. Im Bademantel. Bei Tante
    Schwierigkeiten mit Stuhlgang. Unruhig. »Wo ist meine Frau?« 2 Neurocil
    »Wo ist meine Frau?« Im Garten bei Tante. Gegen Abend Frau Mänz. Telefonat Michael. 3 Neurocil. Beschmutzt
    3 Neurocil. Giftig: »Was gibt Ihnen das Recht, die Gelder, die für mich eingehen, zu verwenden?« – »Wie Sie das alles drehen und zurechtbiegen!« Anruf Michael
    Unten bei der Tante. »Wo ist meine Frau?« Frau Ulm zur Kaffeezeit. Anrufe Frau Massow, Michael. Neurocil
    Von früh an böse. Bei Tante im Garten. »Wo bleibt mein Geld?« Besuch Frau Massow. 3 Neurocil

    Cerebralsklerose lautete die Diagnose. Sie erklärte den Zusammenbruch in Saarbrücken, als für Vater plötzlich die Bücher der Saarbergwerke unlesbar wurden. Sie erklärte die Verfinsterung seiner Laune, die Verstimmung, Depression, die ihn immer gründlicher überschwemmte; die Verwirrung, die ihn wegen der Tages- und Nachtzeiten ereilte: Tante erzählte, wie er, während Mutter Rom besichtigte, morgens um vier – sie schlief gleichfalls chronisch schlecht – mit dem Hund auf die Straße stolperte, weil ihm entfallen war, dass er um 22 Uhr unten gewesen war.

    Mutters Merkbuch für 1971 dünnt aus nach diesen Krisen. Geschwommen. Gartenarbeit, Kaffee bei Staub. Beschwerden wegen des gebrochenen Arms, der mit Schwefelbädern traktiert wird; dann mit Injektionen.
    Je weniger Stichworte, um die Erinnerung zu stimulieren, umso besser.
    Die Psychopharmaka brachten Vaters Seele vollständig zum Verschwinden. Hatte das Haloperidol, das ihn beruhigen sollte, ihn unerträglich aufgereizt, so stellte ihn das Neurocil still. Er schlief bis tief in den Tag hinein, sodass Mutter ihren Arbeiten im Haushalt und im Garten ungestört nachgehen konnte; irgendwann hörte er völlig auf zu sprechen. Nie verlor er die Fähigkeit, selbstständig zu essen, mit Löffel, Messer und Gabel. Und das Rauchen blieb ihm ebenso erhalten. Nur musste man aufpassen, dass keine brennenden Zigaretten irgendwo auf der Tischdecke liegen blieben.

    Am 20. Oktober, Mittwoch, schreibt Mutter in ihr Merkbuch Brandt Friedensnobelpreis.

    Das war unbedingt erzählenswert. Wo warst du, als Kennedy erschossen wurde, wo warst du, als Willy Brandt den Friedensnobelpreis bekam?
    Überreicht wurde er ihm ja erst im Dezember. Eine Geschichte, die sich gewisse Fraktionen der westdeutschen Gesellschaft immer und immer wieder erzählten, weil es ihre eigene Geschichte sein sollte, die sich jetzt so ruhmreich aufgipfelte. Der Bundeskanzler Willy Brandt – den Adenauer 1961, Brandt kandidierte zum ersten Mal für die Kanzlerschaft, als »der Herr Frahm« adressiert hatte – machte sie zu Vollmitgliedern der Bundesrepublik, zu der sie sich zuvor in einer grundlegenden, einer seinsmäßigen Opposition befanden.
    Tante, die anonyme Tante, in deren Haus am Wald Vater und Mutter und Sohn einst untergekommen waren nach der Flucht und in deren großem Haus am Markt Vater jetzt der Cerebralsklerose verfiel – immer wieder saßen sie in deren Garten in diesem Sommer –, Tante hielt den Bundeskanzler Brandt, während des Dritten Reichs Flüchtling in Norwegen, diesen Herrn Frahm, für ein nationales Unglück. Den Friedensnobelpreis verliehen ihm seine norwegischen Genossen, weil er den deutschen Osten, den Adenauer so mannhaft verteidigt hatte, an die Russen verschacherte.
    1973 verwendet Mutter als Merkbuch den Kalender, den Vaters Firma ihren Mitarbeitern als Arbeitsgerät zuteilt, mit den entsprechenden Adressen, Vordrucken, Tabellen.
    Für Vater hat der Firmenkalender jeden Sinn verloren. Er kann nicht mehr schreiben; ihm ist entfallen, wozu das Büchel dient.
    Der Kalender imaginiert ihn, wie er einst war. Mutter tritt in die Hülle ein.
    Die Objektbeziehung, die eheliche Liebesbeziehung, deutet die Psychoanalyse, wird in der Not durch die Identifizierung ersetzt; Mutter wird Vater, indem er verschwindet, damit er nicht verschwindet.

    Tägliche Aufzeichnungen, in Druckschrift (unvermindert die Akten von Vater als Vorbild), als gäbe es Leser, denen Mutters Handschrift Widerstand leistet, und dies wäre unbedingt zu
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