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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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vermeiden. To whom it may concern; anonyme Leser, die irgendwann einmal auf dies Material stoßen könnten.
    Das Erzählenswerte hält sich still, wahrt Bescheidenheit. Das Unglück west im Hintergrund und kann jederzeit krass hervorbrechen.

    Michael mit Frau und Schröter zu Besuch. Schönstes Wetter
    Aufgeblieben bis 4 Uhr nachts! Mit alten Fotos. Auch Vater
    Michael mit Frau und Schröter Abfahrt 10.07 Uhr
    Nebel. Telefonat Frau Massow, Michael
    Schneematsch
    Nebel. Französisch-Kurs. Vater steht nicht auf
    Mittelgrau. Vater im Bademantel im Sessel
    Sonne. Längerer Spaziergang. Telefonat Frau Mänz

    Die Katastrophe, das Unglück im Hintergrund, das jederzeit nach vorn kommen kann (die Vorzeichen: Durchfall, Vater bleibt im Bett), die Erwartung von Sterben und Tod verleiht dem Trivialen (Nebel, Schneematsch, schönstes Wetter, Telefonat Frau Massow) ungewöhnliches Gewicht, macht das Triviale exorbitant.

    Dem Merkbuch für 1973 liegt ein Briefumschlag bei – den Brief geschrieben hat Frau Massow, mit der Mutter so oft telefoniert und die zum regelmäßigen Kaffeekränzchen gehört –, ein Briefumschlag, auf dem Mutter in Druckschrift mit schwarzem und rotem Kugelschreiber die Ereignisse zwischen dem 27. Juni und dem 24. Juli notiert hat, um sie später korrekt in das Merkbuch einzutragen.

    Früh 5 Uhr Herzschmerzen, 1 ½ 6 Uhr Dr. Schacht. Blutdruck 200:100 Spritze. Besserung
    Verschlechterung. Krankenhaus. Frau Heerdt. EKG . Dr. Staedt. Schlechte Nacht
    Ankunft Michael. Waschen und Klogehen erlaubt
    Befinden leidlich. Michael, Tante kurz
    EKG zufriedenstellend. Michael
    Michael bei Dr. Wittkop. Verhandlung mit Christoph Bachmann. Hofgeismar. Entlassung Frau Heerdt. Müllerin, Michael, Frau Fendt
    Mit Michael zum ersten Mal im Garten. Allein noch einmal
    Mittags EKG , unbefriedigend. Frau Simon. Im Bett
    Im Bett. 4. EKG . Michael
    Vater Einweisung in Philippsthal bei Hersfeld. Besuch Frau Mänz, Petra, Frau Massow. Besuch Tante, Frau Vier, Christine und Robert Klipstein. 2 EKG , Apparat kaputt. Anruf Michael, Vater gut angekommen, Gegend und Zimmer befriedigend!
    Besuch Michael und Tante. Michael Abfahrt 10.30 Uhr
    Besuch Anneliese Koelle
    EKG . Blutdruck – doch Herzinfarkt. Fast verlegt!
    Noch 314. Absolut liegen. Frau Mänz und Petra, Kurt. Vater gut in Philippsthal. Anruf Tante und Michael
    Teetag. Anruf Kurt
    Besuch Tante Friedel. Wieder aufstehen. 1200-Kalorien-Diät
    Entlassung Frau Simon. Umlegung nach 301!
    Ziemlich grässlich – Anruf Kurt, Tante, Michael
    Nervensäge. Sonntäglicher Kirchenchor. Ärger durch Müllerin wg. Vater in Philippsthal
    Nervensäge. Besuch Tante. Wechsel Dr. Staedt. EKG . Prof. Maserath
    Anruf Kurt. Nervensäge. Besuch Tante. Blutdruck 150:80. 15 bis 20 Minuten aufstehen
    Besuch Frau Massow. Nervensäge
    Nervensäge
    Frau Mänz und Petra, Tante. 15 Minuten gelaufen
    Ganzen Vormittag verschlafen
    Kurt und Reinhard. Anruf Michael. Müder Tag
    Ganz ruhiger Tag. 145:70
    1 Kilo abgenommen, Größe 163 cm. Buchpaket von Michael
    9. EKG . Entlassung

    Beinahe entsteht ein Text, den man durchlesen kann, und dann weiß man, was geschehen ist. Beinahe.
    Mutter wachte frühmorgens mit Herzschmerzen auf, der Arzt wurde gerufen und gab ihr eine Spritze. Aber die Herzbeschwerden steigerten sich, statt zu verschwinden, und Mutter kam ins Krankenhaus nach Melsungen. Ein EKG nach dem anderen ergab keinen richtigen Befund; Mutter pflegt der Ruhe und empfängt zahlreichen Besuch. Der Sohn reist herbei, und man beschließt, Vater, die Ursache für den Zusammenbruch von Mutter, in ein Pflegeheim zu verbringen. Was geschieht. Endlich bekräftigt ein EKG die Diagnose Herzinfarkt, und Mutter wird den zeittypischen Beruhigungsmaßnahmen unterworfen, still liegen, nur dosierte Bewegungen. Verschiedene Zimmergenossinnen, von denen eine sich als Nervensäge betätigt, wie Mutter immer wieder genüsslich vermerkt. Kurt und Frau Müller besuchen Vater in dem Pflegeheim und finden Haus und Zimmer höchst unbefriedigend, wie sie Mutter nicht verhehlen.
    Unter literarischem Gesichtspunkt kann man größeren Gefallen an der bröckligen Ereignisliste finden, bei der viele Elemente samt ihrer Verknüpfung unklar bleiben, was die Proportionen verzerrt.
    Mutter beabsichtigte keinen kohärenten Text zu schreiben; die Druckschrift, die einen anonymen Leser imaginiert, täuscht. Sie erzeugte ihren kohärenten Text ad hoc, beim Telefonieren mit dem Sohn und Tante, bei den Gesprächen mit Frau Massow und Frau
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