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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch
Autoren: Michael Rutschky
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es nicht mehr, der Atomkrieg habe begonnen und verwüste das westliche Mitteldeutschland. Der Atomkrieg, dachte man, erreicht sofort die ganze Welt. Jetzt.
    Am 26. Oktober 1962 lässt die Bundesanwaltschaft die Redaktionsräume des Spiegel in Hamburg durchsuchen; der Herausgeber, Rudolf Augstein, und der Chefredakteur, Conrad Ahlers, werden verhaftet: Ein Artikel über den Zustand der Bundeswehr übe angeblich Landesverrat.
    Da sieht man’s doch, räsonierte Vater, der Spiegel-Leser, triumphierend, sie streben ein autoritäres Regime an – wie de Gaulle in Frankreich –, und deshalb liquidieren sie das einzige kritische Presseorgan der Bundesrepublik. Welche Unterschiede zur DDR gibt’s da noch? Kaum haben Chruschtschow und Kennedy den Atomkrieg abgewendet, schon kriegen wir die vollendete Demokratur . . .

    Nachwuchstagung Ludwigstein heißt es am 1. Januar 1963. Schulanfang heißt es am 7. Januar. Palaver mit SMV in Gießen, heißt es am 11. Januar und am 12. Januar in einer anderen Tinte Ulla chez moi.
    Französisch bleibt die Sprache der Liebe; auch wenn man eben gründlich Brite geworden ist. Und Ulla kommt auf Französisch viel besser als Birgit.
    In der Rolle des Liebhabers, in der Rolle des Politikers soll man ihn anhand des Merkbuchs erkennen, will er sich selbst erkennen, kommentiert; und der Eintrag Schulanfang umreißt die Rahmenbedingungen.

    Die Rahmenbedingungen beginnen sich am 21. Januar, Montag, zu ändern. Schriftliches Abitur lautet der Eintrag. Deutsch. Am Dienstag Latein, der Mittwoch ist frei. Englisch ist am Donnerstag dran. Chez Ulla. Chez Ulla. Chez Ulla.
    Er verzeichnet, wie er die Gymnasiastenrolle vollendet und das Abitur macht. Was eng mit seinem Liebesleben verknüpft ist.
    Am 13. März verzeichnet er Frankfurt, Zimmersuche. Frankfurt-W 13, Ginnheimer Landstraße 40. Und am 30. April Umzug nach Frankfurt. Am 25. Mai verzeichnet er, dass er 20 Jahre alt wird. Es ist noch Annemarie dazugekommen.
    Das hörte man damals öfter, erzählt die Psychonalyse, dass der erste Geschlechtsverkehr dann stattfand, wenn der junge Mann das Elternhaus verlassen hatte und allein in der Fremde weilte.
    »Fahr wohl«, liest Mutter angstvoll, »du lebest nun oder bleibest. Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, daß du davonkommst.« 27

    Am 22. November 1963 erschießt Lee Harvey Oswald den Präsidenten Kennedy in Dallas, Texas.

    »Alles war langsam und klar. Lee ging auf ein Knie, stützte den linken Ellbogen auf die gestapelten Kartons und legte den Gewehrlauf auf die Kante des Kartons auf dem Fenstersims. Er visierte den Hinterkopf des Präsidenten an. Der Lincoln verschwand hinter der Immergrünen Eiche, fuhr keine zwanzig Kilometer in der Stunde. Links alles klar, rechts alles klar. Im Zielfernrohr sah er den metallischen Glanz des Wagens.
    Er schoß durch eine Lücke im Laubwerk.
    Als der Wagen wieder auftauchte, setzte beim Präsidenten die Reaktion ein.
    Lee stieß den Griff nach oben, schob das Schloß zurück.
    Der Präsident reagierte, die Arme gingen nach oben, die Ellbogen hoch und weit auseinander.
    Plötzlich waren Tauben da, überall; sie stoben von den Dachrinnen und flatterten nach Westen.
    Der Knall hallte über der Plaza, dumpf und deutlich.
    Der Präsident hatte die Fäuste am Hals geballt, die Arme waren abgewinkelt.
    Lee schob das Schloß vor, riß den Griff nach unten.
    Der Lincoln fuhr jetzt langsamer. Er kam praktisch zum Stehen, stand schutzlos auf der Straße, keine achtzig Meter von der Unterführung entfernt.
    Genau in der Schußlinie.« 28

    »Noch war der Präsident nicht tödlich verletzt. Das 6,5-mm- Geschoß drang in seinen Nacken ein, streifte die rechte Lunge, riß die Luftröhre auf und trat vorn an seinem Hals aus, wobei es den Knoten seiner Krawatte anschnitt«, las Mutter in der Illustrierten. »Die letzte Kugel zerriß das Kleinhirn des Präsidenten. Zu ihrem Mann gebeugt, sah Jacqueline, wie sich ein Splitter aus seiner Schädeldecke löste. Am Anfang brach nur dieser fleischfarbene Splitter heraus, kein Blut. Aber dann, im nächsten Augenblick, spritzte Blut über sie, über die Connallys, über Kellerman, Greer und über die Polster. Ein breiter Blutstrom ergoß sich auf den Boden des Wagens. Kennedys Anzug war durchnäßt; dicke Tropfen fielen auf die Rosen. Ein roter Regen übersprühte das Gesicht des Polizeibeamten Bobby Hargis, der auf
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